Verkehrsexperte über CO2-Bilanz der Bahn: „Gegen zerstörerische Großprojekte“
Die Bahn hat Nachholbedarf beim Klimaschutz, kritisiert Verkehrsexperte Winfried Wolf. Mehr Hochgeschwindigkeitstrassen seien der falsche Ansatz.
taz: Herr Wolf, an diesem Wochenende treffen sich Bahnkritiker in Stuttgart zum alternativen Bahn-Kongress Klima-Bahn. Ist die Bahn etwa gar nicht so klimafreundlich, wie man denkt?
Winfried Wolf: Nein. Die Bahn – genauer: der Konzern Deutsche Bahn AG – ist nicht per se klimafreundlich. Die Bahn stößt auch CO2 aus. Vor allem diese Beton-Bahn, also die Bahn mit vielen Tunneln, Brücken, Großprojekten und Geschwindigkeiten um 300 km/h, ist nicht weit entfernt von der CO2-Belastung eines voll besetzten Autos. Deswegen sprechen wir uns für einen vorsichtigen Ausbau der Bahn und gegen viele zerstörerische Großprojekte aus. Das Stichwort ist Takt statt Tempo.
Wer sind „wir“, und was bedeutet Takt statt Tempo?
Wir sind verschiedene bundesweite Bahn-Initiativen, die sich gegen die Beton-Bahn zur Wehr setzen. Gastgeber ist das Aktionsbündnis gegen Stuttgart 21. Ich schätze, dass noch ein Dutzend weitere Initiativen vertreten sind – wie Prellbock Altona, die gegen die Verlegung des Bahnhofs Hamburg-Altona kämpfen. Takt statt Tempo bedeutet, dass die Bahn nicht nach ihrer Höchstgeschwindigkeit beurteilt werden sollte, sondern danach, ob sie pünktlich ist, ob man einen Sitzplatz bekommt und ob das Ticket erschwinglich ist.
Jahrgang 1949, ist bei der Bahnfachleutegruppe Bürgerbahn statt Börsenbahn aktiv und Mitverfasser des Alternativen Geschäftsberichtes Deutsche Bahn AG 2021/22. Er ist Autor des Buchs „Abgrundtief + bodenlos, Stuttgart 21, sein absehbares Scheitern und die Kultur des Widerstands“.
Was sind die Gründe für die schlechte Klimabilanz der Bahn?
Die Bahn behauptet zwar, dass sie im Fernverkehr mit 100 Prozent Ökostrom fährt. Der Gesamtanteil von Ökostrom auf den elektrifizierten Strecken beläuft sich aber auf lediglich 61 Prozent. Hinzu kommt, dass überhaupt nur 60 Prozent der Strecken elektrifiziert sind. Auf den restlichen Strecken fahren Diesellokomotiven. Außerdem sind manche Strecken nur teilelektrifiziert. Auf denen muss dann trotzdem ein Dieselzug fahren, nur weil ein kurzes Stück keine Hochspannungsleitung besitzt.
Wie wirken sich die Prestigeprojekte aus?
Früher war die Klimadebatte kein Thema. Damals haben wir gegen Stuttgart 21 gekämpft, weil es eine sinnlose Verkleinerung des Bahnhofs darstellt und im Brandfall ein großes Risiko birgt. Wegen des Klimanotstands beschäftigen wir uns nun aber auch mit den CO2-Kosten solcher Projekte. Allein der für den Bau benötigte Beton und Stahl setzt 1,9 Millionen Tonnen des Treibhausgases frei. Zusätzlich ist der Energieverbrauch in einer eingleisigen Tunnelröhre zwei- bis dreimal so hoch wie über der Erde. Klimatechnisch sind Tunnelprojekte nur im Ausnahmefall zu vertreten. Die Deutsche Bahn hat aber seit 1985 doppelt so viele Tunnelkilometer gebaut wie in den 150 Jahren zuvor.
Aber braucht die Bahn nicht eine gute Infrastruktur?
Das schon. Aber nicht einen unterirdischen Bahnhof, der nur halb so viele Gleise hat wie der alte und gravierende Brandschutzmängel aufweist, sondern Bahnhöfe auch in den kleinen Städten und Dörfern, anstatt der vernagelten und verpissten Gebäude.
Wie kann die Bahn besser werden?
Also zunächst einmal bräuchte die Bahn Leute an der Spitze, die selbst begeisterte Bahnfahrer sind. So wie der ehemalige Vorsitzende der Schweizer Bundesbahnen, Benedikt Weibel. Der hat alle Dienstwagen mit der Begründung abgeschafft, dass seine Mitarbeiter auch mit der Bahn zu fahren haben. Dann sollte die Bahn 100 Prozent elektrisch fahren, wie in der Schweiz. Die Bahn muss außerdem attraktiver werden und die Leute von der Straße auf die Schiene holen. Viele der ehemaligen Strecken müssen wieder reaktiviert werden, um den Weg zum nächsten Bahnhof zu verkürzen. In den vergangenen zwanzig Jahren wurde auch die Zahl der Weichen halbiert. Das ist, als würde man die Hälfte der Autobahnkreuze wegnehmen. Die müssen wieder her.
In Österreich gibt es ein Klimaticket, das für alle Fahrten gilt. Wäre das auch ein Modell für Deutschland?
Ja. Die Bahn braucht ein Ticket für alle öffentlichen Verkehrsmittel.
Wie könnte es mit Stuttgart 21 weitergehen?
In den verschiedenen Stadien des Baus gab es von uns immer wieder Vorschläge, wie man die bestehenden Bauten am besten anders nutzen kann. Aktuell am vielversprechendsten wäre eine Nutzung der Tunnel für die Logistik der Stadt, um Waren durch die Tunnels zu Kaufhäusern transportieren. Eine Inbetriebnahme als Eisenbahntunnel wäre unwirtschaftlich, weil die fortlaufenden Sanierungen auf Dauer mehr Geld verschlingen würde, als der Bahnhof einbringt. Im schlimmsten Fall kann es zum Totalschaden kommen, da die Tunnel zum Teil durch Anhydrit-Gestein führen. Ein Mineral, das sich bei Zutritt von Wasser ausdehnt und so den Tunnel anheben kann. Hinzu kommen die bereits erwähnten Brandschutzmängel. Eine Kompromisslösung könnte ein Kombi-Bahnhof sein: Zwei Röhren könnten als Erweiterung zum bestehenden Bahnhof für den Fernverkehr dienen. Mittlerweile ist nämlich auch den Politikern klar geworden, dass der Stuttgart 21-Bahnhof viel zu klein wäre: Was wir zwölf Jahre lang gesagt haben.
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