Verhandlungen um EU-Spitzenämter: Schachern ist nichts für Dumme
In der EU wird um die besten Posten verhandelt – manche sagen: „geschachert“. Aber was heißt das eigentlich? Und ist das so schlimm?
W ahrscheinlich kursiert in rechten (und manchen linken) Foren aktuell das Wort „schachern“ heftig. Es ist eine Vokabel mittelalterlicher Herkunft, eine aus dem Rotwelschen, der Gauner*innensprache, dem Idiom der Gosse. Jiddisch wurde es benutzt: Schachern ist die Fähigkeit des Händlers oder der Händlerin, um ein Gut einen Preis zu erzielen. Alle Beteiligten am Schachern haben sich, haben sie das Gegenüber der Verhandlungen im Blick, am zivilisierten Miteinander geeinigt. Die höchsten Stufe des fairen Umgangs ist erreicht, wenn alle etwas aus dem Topf abbekommen. Handel statt Händel, Austausch statt Streit.
Ein solches Postengeschacher ist nichts schlimmes, deshalb ist das, was in Brüssel im Herzen des EU-Gebäudeensembles stattfindet, das, gemessen an den europäischen Bürger*innenkriegen des 20. und 19. Jahrhunderts, verglichen auch mit dem Dreißigjährigen von 1618 bis 1648, das demokratischste Procedere, das aktuell denkbar ist. Die EU ist ein politisch seltsames Gebilde, sie ist eine Union, ein Zusammenschluss, aber in ihr existieren die Nationalstaaten weiter – und nach allem, was man politisch wissen kann, werden gerade die osteuropäischen und postsowjetischen Länder ihre nationalstaatliche Autonomie auch nicht aufgeben wollen.
Verhandlungen um Posten, ob nun auf niederer oder höchster Ebene, sind sowieso nicht die Ausnahme, sondern die Regel, in jedem Alltag, in der Politik aber besonders. Ehe ein Regierungssprecher auch nur ein Muckserchen über das neue Kabinett verkündet, sind diesem Sprechakt in Hinterzimmern mannigfaltige Verhandlungen vorausgegangen. Dort wurden Regional- und Geschlechtsproporze, Altersaspekte und Professionalitätserwägungen erörtert, dort sind mithin Fragen der Diversität zur Debatte gestellt worden: Rücksichtnahme ist die wichtigste Tugend eines jeden Geschachers.
In der EU, siehe: Autonomie ihrer Staaten in der Union, wird tüchtig gepokert, finassiert, an- und getäuscht – aber immer mit dem Ziel von allen 28 Mitgliedsländern und ihren Delegierten, dass möglichst fast alle sich mitgenommen fühlen. Außerdem, gemessen an innerparteilichen Verhandlungen um Minister*innenämter ist das, was die EU aktuell in ihrer Personalpolitik aufführt, wahnsinnig transparent.
Demokratie bis in die letzte Pore
Demokratie ist, so darf man lernen, ein Verfahren, bei dem die beteiligten Bürger*innen einen möglichst stimmigen Eindruck von seinem Funktionieren haben müssen – einen stimmigen, wie gesagt, keinen perfekten. Vollendung, Demokratie bis in die letzte Pore gibt es nicht. Die ersten der höchsten Posten in der EU und ihrer Vorläuferinstitutionen (in der EWG beispielsweise, der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft) wurden noch gänzlich ohne das EU-Parlament vergeben.
Jetzt ist es anders. Man muss Spitzenkandidat einer der Parteienblöcke gewesen sein, um ins Rennen um die Jean-Claude Juncker-Nachfolge zu gehen. Formell ist das nicht zwingend: Am Ende entscheiden die Regierungschefs der EU-Mitglieder – aber, so lernte jetzt Emmanuel Macron, das Spitzenkandidat*innenprinzip für nichtig zu erklären, hülfe für den aktuellen politischen Moment, nicht jedoch für die nächsten Jahre.
Denn das ist ja ebenfalls ein Teil des unheimlichen Geheimnisses des Schacherns um Posten: Man erzielt ein Ergebnis – und wenn eine mitschachernde Person über den Tisch gezogen wurde, merkt sich diese das und wird Vergeltung üben wollen. Das wiederum desintegrativ, deshalb funktioniert ein gelingendes Geschacher immer als Kompromiss, der beim Verhandeln als Tugend, nicht als notwendiges Übel gilt. Merke: Man ssieht ich immer zwei Mal – in der EU sogar öfter, sehr viel öfter.
Die EU verkörpert das aktuelle Optimum demokratischer Partizipation. Ein Optimum markiert immer das, was geht, nicht das, was traumschlösserisch mal gehen könnte. Zur Stunde fühlen sich Länder wie Polen, die Slowakei, Tschechien und Ungarn nicht repräsentiert. Einer wie Donald Tusk wird herausfiltern müssen, was nun noch gehen kann. Den Viererblock spalten, etwa mit Subventionsverheißungen? Vieles (nicht: alles) ist möglich – sogar, dass Frans Timmermanns Junckers Nachfolger wird.
Auf dem Schachbrett demokratischer Verhandlungen ist die Lage noch unübersichtlich, bis Dienstag, oder Mittwoch oder ein paar Tage danach. Schachern ist nichts für schwache Nerven, nichts für Dumme.
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