Verhalten der Polizei bei Halle-Anschlag: Mangelnde Empathie für Terror-Opfer
Nach dem Anschlag in Halle beklagten Zeugen das unsensible Verhalten von Polizisten. Ein interner Bericht der Behörden gesteht nun Fehler ein.
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Offenbar aber stellten die Polizeibeamten diese Frage nicht, als sie am 9. Oktober 2019 an der Synagoge in Halle anrückten, nachdem dort der Rechtsterrorist Stephan B. versucht hatte, diese zu stürmen und eine Passantin erschoss. Danach ermordete der 27-Jährige noch einen Mann im nahen „Kiezdöner“, schoss auf weitere Personen. Mehr als anderthalb Stunden dauerte es, bis Polizisten den Attentäter festnahmen, auf einer Landstraße, 60 Kilometer hinter Halle.
Es war ein Anschlag, der einen der größten Polizeieinsätze in der Geschichte Sachsen-Anhalts verursachte – insgesamt 1.569 Beamte waren eingebunden. Ein Einsatz, der im Nachgang von der Landespolizei penibel ausgewertet wurde. Funksprüche und Notrufe wurden analysiert, Beamte befragt. Der im März fertiggestellte „Schlussbericht“ ist bisher nicht öffentlich, liegt nun aber der taz vor – über die Initiative „Frag den Staat“, die ihn beim Innenministerium Sachsen-Anhalt angefordert hatte.
Der Bericht macht klar: Auch wenn die Polizei ein positives Einsatzfazit zieht, hatte sie bei dem Anschlag mit mehr Problemen zu kämpfen als bisher bekannt, allen voran bei der Betreuung der Opfer. Dieses hatte auch der Untersuchungsausschuss des Landtags zu dem Attentat zuletzt deutlich kritisiert.
Koordination per Privathandy
Der Anschlag habe die Landespolizei „extrem gefordert“, hält der Bericht fest. Weder sei anfangs klar gewesen, was genau geschehen sei, noch mit wie vielen Tätern und welcher Bewaffnung man es zu tun hatte. Die Polizeikräfte hätten aber „außergewöhnlich entschlossen“ agiert, die taktischen Ziele seien erreicht worden: Der Täter sei festgenommen, umfangreiche Beweismittel gesichert worden.
Der Bericht listet aber auch Probleme auf. So habe es eine Weile gedauert, bis die operative Führung in der Polizei sich sortiert hatte: Die ersten Einsatzkräfte an den Tatorten waren so zunächst auf sich allein gestellt.
Auch war die gewählte Polizeifunkgruppe schnell überlastet, etliche Einsatzkräfte hätten daraufhin auf private Mobiltelefone zurückgreifen müssen – wodurch Informationen nicht mehr alle erreichten und die spätere Beweissicherung erschwert wurde. Zudem hätten Informationen aus Notrufen „mit sehr hohem Aufwand“ per Hand ins Einsatzprotokollsystem übertragen werden müssen und hätten so erst verzögert die Polizeiführung erreicht.
Dass es Stephan B. trotz eines Schusswechsels mit der Polizei vor dem „Kiezdöner“ gelang, aus Halle zu fliehen und im Nachbarort Wiedersdorf nochmal zwei Menschen niederzuschießen, räumt der Polizeibericht als misslich ein: Der Anschlag habe gezeigt, „dass erhebliche Probleme auftreten können, wenn Täter an mehreren Tatorten agieren und es nicht gelingt, diese frühzeitig zu binden“.
„Erfolgreiche Polizeiarbeit“
Den Polizeikräften sei aber nichts vorzuwerfen. Sie seien „sehr zügig“ an den Tatorten gewesen, an der Synagoge sieben Minuten nach dem ersten Notruf, am „Kiezdöner“ nach drei Minuten. Allesamt hätten „taktisch zweckmäßig“ agiert, trotz „hohem Risiko der Eigengefährdung“.
Dass der Attentäter dennoch wieder ins Auto stieg, sogar noch einmal an Polizeikräften vor der Synagoge vorbeifuhr, könne man diesen ebenfalls nicht vorwerfen: Die dortigen Beamten hatten gerade erst ihre Ausrüstung angelegt und seien schlicht „überrascht“ worden. Einzig noch mehr Einsatzkräfte vor Ort hätten helfen können, bilanziert der Bericht.
Auch der Untersuchungsausschuss im Magdeburger Landtag, der im April zu Ende ging, übte hier keine Kritik. Der Polizeieinsatz habe „keine wesentlichen Schwächen“ offenbart, heißt es im dortigen Abschlussbericht. Für die zunächst erfolgreiche Flucht von Stephan B. seien „weniger Konzeptionsdefizite als vielmehr Zufälle ausschlaggebend“ gewesen. Dass der Täter doch noch lebend festgenommen werden konnte, sei „erfolgreiche Polizeiarbeit“.
Das Lob des Ausschusses aber endet beim Umgang der Polizei mit den Opfern des Attentats. Tatsächlich beklagten im Ausschuss alle befragten Synagogenbesucher:innen, dass die Polizei ihre Evakuierung kaum erklärte. Zu dem, was draußen passierte, habe es gar „null Kommunikation“ gegeben. Sie selbst seien durchsucht worden, hätten sich wie Verdächtige behandelt gefühlt.
Polizei gibt sich Selbstkritisch
Die Mitnahme von koscherem Essen sei zunächst untersagt worden, obwohl man wegen der Jom Kippur-Feier an diesem Tag über Stunden nichts gegessen und getrunken hatte. Noch im Krankenhaus hätten Polizeibeamte ihre Gebete unterbrochen. Später seien sie alleine zurückgelassen worden.
Auch der U-Ausschuss attestierte den Polizist:innen darauf eine schlechte Kommunikation mit den Opfern: Zentrale Ansprechpartner:innen seien diesen nicht benannt worden, die Beamten hätten „mangelnde Empathie“ und „geringe bis nicht vorhandene Kenntnis über jüdisches Leben“ offenbart. All dies zeige einen „strukturellen Verbesserungsbedarf für polizeiliches Agieren“.
Im Punkt der Opferbetreuung zeigt sich auch der Bericht der Landespolizei selbstkritisch. Die Evakuierung der Synagoge sei zwar „taktisch zweckmäßig“ gewesen, heißt es dort. Aber: Den Erwartungen einer „sofortigen, umfassenden und sensiblen Betreuung“ sei man „nicht vollumfänglich gerecht“ geworden. Die Polizeimaßnahmen seien „nicht ausreichend erklärt“ worden, qualifiziertes Personal für die Opferbetreuung stand „in den ersten Stunden des Einsatzes nicht ausreichend zur Verfügung“.
Auch die Aufnahmen der Personalien der Opfer sei „nur unzureichend“ erfolgt – weshalb man zu Verletzten und den Evakuierten aus der Synagoge anfangs kaum Auskünfte geben konnte. Angehörige und diplomatische Vertretungen hatten hier immer wieder bei der Polizei nachgefragt.
Ähnliche Kritik auch nach anderen Anschlägen
Auch den Familien der beiden Erschossenen, Jana L. und Kevin S., seien erst gegen 22 Uhr – 10 Stunden nach den Morden – die Todesnachrichten überbracht worden. Die Polizei rechtfertigt sich: Zuvor hätten die Identitäten zweifelsfrei geklärt werden müssen. Eingeräumt wird aber, dass die Familien bis dahin nicht psychosozial betreut wurden, was „Kommunikationsdefiziten“ geschuldet gewesen sei.
Sebastian Striegel, der Vorsitzende des U-Ausschusses und Abgeordneter der mitregierenden Grünen, hält die missglückte Opferbetreuung für fatal. „Fehler, die Polizistinnen und Polizisten in einer auch für sie extrem herausfordernden Einsatzsituation im Umgang mit Betroffenen in den ersten Stunden passieren, bekommt die Polizei nie wieder gerade gebogen. Da bleiben tiefe Enttäuschungen, wie wir im Ausschuss eindrücklich erlebt haben.“
Auch Striegel plädiert für strukturelle Reformen: Die Polizei müsse eigene Einheiten für die Opferbetreuung aufbauen, alle Mitarbeiter:innen entsprechend schulen. „Die Opferbetreuung darf kein Anhängsel sein, sondern muss von Minute eins solcher Einsätze mitbedacht werden.“
Die Diskussion läuft nicht nur in Sachsen-Anhalt. Schon nach den Anschlägen auf dem Berliner Breitscheidplatz 2016 oder in Hanau 2020 übten Opfer Kritik an der Polizei. Auch sie fühlten sich unsensibel behandelt und schlecht informiert. Inzwischen wird bundesweit in der Polizei diskutiert, wie intensiv die Opferbetreuung Teil der eigenen Arbeit ist. Denn klar ist: Dafür braucht es Personal, und zwar nicht wenig. Allein beim Halle-Anschlag notierte die Polizei am Ende 187 Personen, die als Opfer, Zeugen oder Angehörige betreut oder befragt werden mussten.
Fortbildung zu interkultureller Kompetenz
Als einer der Vorreiter gilt die bayrische Polizei. Seit Oktober 2020 bildet diese bei Einsätzen mit größeren Opferzahlen einen eigenen Einsatzabschnitt „Betreuung“, mit bis zu 30 Beamten – wie zuletzt beim Messerangriff in Würzburg mit drei Toten. Diese Einheit kümmerte sich laut Unterfrankens Polizeivizepräsidenten Martin Wilhelm nur um die Opfer, informierte diese aus erster Hand über den Einsatz und beantwortete Fragen. „Der Opferschutz hat hier große Priorität“, betonte Wilhelm.
Auch in Sachsen-Anhalt gelobt man Besserung. Der Polizei-Schlussbericht selbst schlägt vor, dass nach schweren Gewalttaten künftig noch vor Ort Ansprechpartner:innen der Polizei für alle Opferbelange benannt werden müssten. „Der Einsatz von befähigten und qualifizierten Kräften ist unabdingbar.“ Alle Beamten müssten bei der Opferbetreuung „sensibilisiert und geschult“ werden.
Auf taz-Nachfrage bekräftigt das Innenministerium von Sachsen-Anhalt, dass dies auch umgesetzt werden soll. Ein Konzept für entsprechende Fortbildungen werde gerade erarbeitet. Das Leitbild laute: „Der Mensch steht im Mittelpunkt unseres Handelns.“
Auch die interkulturelle Kompetenz der Beamten solle gesteigert werden, hier liege ein Fortbildungskonzept der Polizeihochschule bereits vor. Damit soll mangelnde Sensibilität bei entsprechenden Einsätzen „deutlich reduziert“ werden. Auch Sachsen-Anhalts Opferbeauftragte Gabriele Theren appelliert, die Informationsflüsse von Polizei und anderen Beratungseinrichtungen besser zu verzahnen.
Sebastian Striegel, der Vorsitzende des Untersuchungsausschuss, will die Reformen im Blick behalten. „Die Polizei muss sich daran messen lassen, dass sie bei der Betreuung von Opfern wirklich was bewegt. Für das Vertrauen in ihre Arbeit ist das kaum zu unterschätzen.“
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