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Verhaftung von Istanbuls BürgermeisterZeit der Skrupellosigkeit

Daniel Bax
Kommentar von Daniel Bax

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lässt seinen stärksten Rivalen Ekrem İmamoğlu verhaften. Damit sollte er nicht durchkommen dürfen.

Der Protest für die Freilassung des beliebten Bürgermeisters von Istanbul, Ekrem İmamoğlu, wird lauter Foto: Francisco Seco/ap

D ie Demokratie in der Türkei stirbt auf Raten. Am Mittwochmorgen wurde Ekrem İmamoğlu, der größte Konkurrent des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan, von der Polizei verhaftet. Sie nahm den beliebten Bürgermeister von Istanbul zusammen mit mehr als 100 weiteren Menschen, darunter Journalisten und Geschäftsleute, fest. Zugleich wurden Kundgebungen verboten und Social-Media-Kanäle eingeschränkt, sogar Metrostationen und Straßen gesperrt.

Völlig zu Recht nennt İmamoğlus Partei CHP, die größte Oppositionspartei der Türkei, das Vorgehen einen Putschversuch. Wie demokratisch die Türkei jemals war und überhaupt noch ist, darüber kann man sich streiten. Der 70-jährige Erdoğan regiert die Türkei seit mehr als 20 Jahren – seit 2003 als Ministerpräsident, seit 2014 als Staatspräsident. Seitdem hat er Justiz, Armee und die Medien immer mehr unter seine Kontrolle gebracht.

Nun will er seinen aktuell größten Widersacher mit konstruierten Vorwürfen aus dem Weg räumen. Dass es trotz aller Verbote nun Proteste gegen sein skrupelloses Vorgehen gibt, zeigt, dass die Demokratie in der Türkei noch nicht ganz verloren ist. İmamoğlus Verhaftung kommt nicht völlig überraschend. In den vergangenen Monaten wurden bereits mehrere führende Kommunalpolitiker seiner Partei verhaftet, und am Dienstag wurde İmamoğlu sogar der Uni-Abschluss aberkannt, ohne den er nicht für die Präsidentschaft kandidieren kann.

Dem autoritären Trend fügen

Die nächsten Präsidentschaftswahlen stehen in der Türkei zwar erst in drei Jahren an. Doch Erdoğan darf nach zwei Amtszeiten eigentlich nicht noch einmal antreten. Um an der Macht bleiben zu können, muss er die Verfassung ändern lassen. Zugleich will er seinen Kontrahenten rechtzeitig aus dem Rennen nehmen. Denn İmamoğlu ist in Umfragen derzeit populärer als er. Deshalb ist Erdoğan jedes Mittel recht, um seinen Kontrahenten zu stoppen.

Erdoğan Vorgehen fügt sich in den autoritären Trend, der immer mehr Demokratien erfasst hat. Wir leben in einer neuen Zeit der Ruchlosigkeit, hat Außenministerin Annalena Baerbock mit Blick auf Trump und die Ukraine gesagt. Das gilt auch für andere Länder, in denen Populisten zunehmend autokratisch regieren, nicht zuletzt die Türkei.

Deutschland kann dieser Ruchlosigkeit wenig entgegensetzen. Es hat kaum Mittel, um Erdoğan in die Schranken zu weisen. Aber es sollte es nicht nur bei lahmen Ermahnungen belassen. İmamoğlus Verhaftung ist mehr als ein „Rückschlag für Demokratie“ in der Türkei, wie es im Auswärtigen Amt heißt. Wenn Erdoğan damit durchkommt, dann wäre es ihr Todesstoß.

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Daniel Bax
Redakteur
Daniel Bax ist Redakteur im Regieressort der taz. Er wurde 1970 in Blumenau (Brasilien) geboren und ist seit fast 40 Jahren in Berlin zu Hause, hat Publizistik und Islamwissenschaft studiert und viele Länder des Nahen Ostens bereist. Er schreibt über Politik, Kultur und Gesellschaft in Deutschland und anderswo, mit Fokus auf Migrations- und Religionsthemen sowie auf Medien und Meinungsfreiheit. Er ist Mitglied im Vorstand der Neuen deutschen Medienmacher:innen (NdM) und im Beirat von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Er hat bisher zwei Bücher veröffentlicht: “Angst ums Abendland” (2015) über antimuslimischen Rassismus und “Die Volksverführer“ (2018) über den Trend zum Rechtspopulismus. Für die taz schreibt er derzeit viel über aktuelle Nahost-Debatten und das neue "Bündnis Sahra Wagenknecht" (BSW).”
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11 Kommentare

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  • Es sind wahrlich dunkle Zeiten, durch die die Menschheit seit ein paar Jahren geht. Einige Obere bekriegen sich in dem Wunsch, ihre ohnehin schon große Macht zu erweitern, und die Bevölkerung wird gespalten.

  • Angesichts der angespannten Weltlage, will sich der Leisetreter BRD nicht noch mit Erdogan anlegen. Frau Baerbock ist derzeit vor allem mit ihrem robust eroberten zukünftigen UN-Job beschäftigt und weiht dazu noch schnell Botschaften ein, wie es halt gerade so passt. Die Vorreiterolle in Europa übernehmen derzeit Frankreich und England. "Und denk ich an Deutschland in der Nacht, so bin ich um den Schlaf gebracht"

    • @Rinaldo:

      Dein Baerbockbashing macht es nicht besser. Ich glaube das unsere Aussenministerin deutlicher und klarer war als viele vor ihr. Der letzte der sich das getraut war auch ein Grüner. Joschka Fischer.

  • Die Türkei ist eine autoritäre Diktatur mit einem Restbestand an Gerichten, 'freier' Presse und gewissen individuellen Rechten der Bürger. Damit wird nun auch noch aufgeräumt. Ökonomisch kann die Türkei eigentlich nur absteigen, politisch profitiert das Land gerade vom Sturz Assads , der Schwächung des Irans und dem strategischem Dilemma der Kurden in Rojava. Mit dieser Verhaftung könnte ein Bürgerkrieg oder massive Proteste wahrscheinlich werden.

  • Man stelle sich vor der Bürgermeister von Berlin, Hamburg oder München würde gerade mal eingesperrt, alle seine Abschlüsse einkassiert... seine Mitarbeiter auch gleich mit... dann noch kritische Journalisten... Abgründe tun sich auf. Es geht nur noch um Macht, nicht mehr um legitime Inhalte.

  • "Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan lässt seinen stärksten Rivalen Ekrem Imamoglu verhaften. Damit sollte er nicht durchkommen dürfen."



    Es wird wohl beim Konjunktiv bleiben, denn wer soll ihn daran hindern? Der Artikel sagt es ja trefflich:



    "Deutschland kann dieser Ruchlosigkeit wenig entgegensetzen. Es hat kaum Mittel, um Erdoğan in die Schranken zu weisen."



    Deutschland kann man gerne in dieser Aussage durch "die EU" ersetzen - Erdogan ist unser meistbeschäftigter Türsteher in Sachen illegale Migration UND die Türkei stellt Incirlik... - dort lagern nicht nur um die 100 Atomwaffen der NATO, es ist neben Ramstein auch der wichtigste Stützpunkt der Third Air Force - und gerade im neuerlichen Fokus der USA gegen den Iran ist Incirlik von außerordentlicher Bedeutung, aber auch aus Sicht der NATO im aufziehenden neuen Dauerkonflikt mit Russland.



    Erdogan kann also machen was er will, er wird keinen Ordnungsruf von uns erfahren.



    Wie auch schon Orban gestern oder Putin generell muss auch Erdogan die EU nicht fürchten, Europa erlebt seit drei Jahren auf Raten seine Götterdämmerung - nicht unverdient.

  • Die Ereignisse weisen Parallelen auf: Erdogan war einst Bürgermeister von Istanbul, wurde später verhaftet und saß im Gefängnis – letztlich wurde er Präsident. İmamoğlu ist derzeit Bürgermeister von Istanbul und könnte ebenfalls diesen Weg gehen. Mit seiner Verhaftung hat sich die Regierung jedoch selbst geschadet. Der türkische Wähler ist aufmerksam und reagiert auf solche Entwicklungen an der Wahlurne – das weiß niemand besser als Erdogan selbst.

  • Nur dass "wir" halt nicht in Demokratien leben, sondern quasi-Plutokratien . Aber ja, der Trend von alten, weißen Männern sich Denkmäler zu setzen, ist echt nervig, da wir andere Probleme als deren ego-Befriedigung haben

  • Im einleitenden Absatz steht: Damit sollte er nicht durchkommen dürfen. Das wird er aber wahrscheinlich! Denn andere Länder sehen ihn als Verbündeten im Kampf gegen den Verbrecher im Kreml und als Garant für die wirtschaftlichen Beziehungen mit der Türkei. Er hat doch schon oft gezeigt, dass er tun und lassen kann wie er will.

    Bis heute ist seine Rolle bei dem 'Aufstand' 2016 ungeklärt. Es erscheint sehr gut möglich, dass er eigentlich für den sog. Versuch eines Putsches verantwortlich war. Nur wenige Standen danach hatte die Regierung unzählige Verhaftungen von angeblich beteiligten Gegnern vorgenommen. Das muss einem vorher festgelegten Plan gefolgt sein. Dafür muss es schwarze Listen gegeben haben.

    Er hat ein gleiches Ziel wie Putin: Er hat Angst, dass er nach dem Verlust der macht für viele Verbrechen verantwortlich gemacht wird. Dies würden dann aufgedeckt werden und er würde wahrschlich (zu Recht) im Knast landen.

  • Der Artikel hätte vielleicht mal die These vertiefen können, warum Deutschland diesen Entwicklungen in der Türkei nichts entgegenzusetzen hat. Das kann ich mir nämlich so pauschal nicht vorstellen.

  • Die Türkei hat die zweitgrößte Armee in der NATO nach den USA, tausende Panzer und eine moderne Dronenflotte. Man kann sich gegen die Türkei stellen aber ihre militärische Macht im Ringen mit Russland kann Europa derzeit nicht ersetzen.