Verfassungsgericht zu Corona-Maßnahmen: Vertrauensbonus für den Staat

Das Bundesverfassungsgericht hat Ausgangssperren und Schulschließungen als rechtmäßig eingestuft. Das ist aber kein Freibrief für die Zukunft.

Poliszisten kontrolieren in einer leeren Straße eine Person.

Verfassungskonform: Polizist kontrolliert Ausgangsbeschränkungen in Stuttgart im April 2021 Foto: Simon Adomat/imago

Die verschärfte Coronapolitik, die von April bis Juni bundesweit galt, verletzte keine Grundrechte. Das hat jetzt das Bundesverfassungsgericht festgestellt und die Klagen gegen zwei besonders umstrittene Maßnahmen – Ausgangssperren und Schulschließungen – abgelehnt. Die Bundesnotbremse der Großen Koalition war demnach verhältnismäßig und damit verfassungskonform.

Es besteht nun kein Anlass, mit Hohn und Schadenfreude auf die Kläger – FDP, Freie Wähler und Bür­ger­recht­le­r:in­nen – zu schauen. Die Länge der Karlsruher Beschlüsse, 85 und 124 Seiten, macht deutlich, dass es um komplexe Abwägungen ging. Das Bundesverfassungsgericht hat die Klagen offensichtlich auch nicht mit leichter Hand abgebügelt. Wer, wie die AfD, die Rich­te­r:in­nen nun als „Büttel der Regierenden“ schmäht, zeigt, dass er nur noch seine eigene Meinung akzeptiert.

Was also bleibt von den Karlsruher Entscheidungen? Wichtig ist, dass der Staat bei der Pandemiebekämpfung ein Gesamtkonzept verfolgen darf, zu dem viele Einzelmaßnahmen beitragen. Auch Bereiche, die nicht die größten Infektionstreiber sind, können für das elementare Ziel in die Pflicht genommen werden.

Für Schulschließungen gilt das allerdings nur bedingt. Hier hat das Gericht die Hürden deutlich höher gelegt als zum Beispiel für Ausgangssperren. Schulschließungen sollen nur im äußersten Fall angewandt werden.

Das Gericht hat sogar ein neues „Grundrecht auf schulische Bildung“ entwickelt. Schü­le­r:in­nen können nun den Staat auch in der Pandemie zu einer Mindestversorgung mit Unterricht zwingen. Wenn Präsenzunterricht in der Schule nicht möglich ist, dann muss jedenfalls brauchbarer Distanzunterricht geboten werden.

Aber man muss auch die Grenzen der Beschlüsse sehen. Die Karlsruher Rich­te­r:in­nen haben über eine Norm entschieden, die es nicht mehr gibt und über eine Situation, die sich inzwischen stark verändert hat. Im Frühjahr stand die Impfkampagne am Anfang, heute sind zwei Drittel der Bevölkerung vollständig geimpft. Auf der anderen Seite sind die Inzidenzwerte heute um ein Mehrfaches höher als damals. Es sind also ganz neue Abwägungen durch Gesetzgeber und Behörden erforderlich.

Dabei hat der Staat aber einen weiten Einschätzungsspielraum, so die Karlsruher Klarstellung, sowohl bei der Gefährlichkeit der Lage als auch bei der Nützlichkeit der Maßnahmen. Die Behörden sollen handeln und nicht aus Furcht vor gerichtlicher Kontrolle unnötig lange zögern.

Die Karlsruher Beschlüsse sind gegenüber dem Staat zu Recht großzügig und geradezu vertrauensvoll. Schließlich wird hier eben kein autoritäres Regime aufgebaut, sondern im Interesse aller gehandelt, auch der Corona-Skeptiker:innen.

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Geboren 1965, Studium in Berlin und Freiburg, promovierter Jurist, Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe seit 1996 (zZt Vorstandsmitglied), Veröffentlichung: „Der Schiedsrichterstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (2013).

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