Verfassungsgericht und EU-Grundrechte: Karlsruhe will mehr Macht
Deutsche Verfassungsrichter wollen Arbeit des EuGH teils übernehmen. Nationale Verfassungsgerichte würden die Probleme vor Ort besser kennen.
Das Problem ist bekannt. Wenn etwas durch die EU geregelt wird, gelten EU-Grundrechte und nicht mehr die deutschen Grundrechte. Zum Beispiel wäre die Anwendung des EU-Datenschutzrechts nur noch ein Fall für den EuGH, aber nicht mehr für das Bundesverfassungsgericht.
Verfassungsrichter Johannes Masing, der die beiden aktuellen Beschlüsse vorbereitet hat, kritisiert das schon seit Jahren. Die nationalen Verfassungsgerichte kennen die Probleme vor Ort besser als der ferne EuGH, argumentierte er. Karlsruhe habe gerade bei der Abwägung von Persönlichkeitsrecht und Meinungsfreiheit präzise Lösungen gefunden, die verloren gingen, wenn künftig der EuGH zuständig wäre.
Nun propagiert das Bundesverfassungsgericht ein neues Modell, das mit den offiziellen Regeln wenig zu tun hat. Danach soll das deutsche Verfassungsgericht auch zuständig bleiben, wenn eine Materie voll EU-harmonisiert ist, wie etwa der Datenschutz. Die Karlsruher Richter wollen ab sofort einfach selbst die EU-Grundrechte schützen.
Außerdem soll das Bundesverfassungsgericht auch zuständig bleiben, wenn das EU-Recht noch nationale Spielräume belässt. Im Datenschutzrecht ist das etwa der Fall, wenn es um Medien und ihre Privilegien geht. Hier will Karlsruhe weiter deutsche Grundrechte anwenden.
Für die Bürger hat das Karlsruher Manöver Vorteile. Denn sie können weiterhin mit der Verfassungsbeschwerde direkt ihre Grundrechte einklagen. Eine ähnliche Direktklage zum EuGH fehlt bislang. Allerdings ist der Grundrechtsschutz in Karlsruhe und Luxemburg nicht immer identisch. Doch die Karlsruher Richter versprechen: Wenn der deutsche Schutz hinter dem EU-Niveau zurückbleibt, wollen sie den EuGH einschalten.
Dieser soll das Letztentscheidungsrecht im EU-Bereich behalten. Dies ist schon deshalb wichtig, weil sonst illiberale Demokratien wie Ungarn und Polen mit ihren willfährigen Verfassungsgerichten das deutsche Vorbild aufgreifen und EU-Garantien unterlaufen könnten. Bisher hat das Bundesverfassungsgericht vor allem versucht, den EuGH zu kontrollieren, damit er seine Kompetenzen nicht überschreitet und den Identitätskern des Grundgesetzes achtet. Nun wollen die Karlsruher Richter erstmals selbst Arbeit des EuGH übernehmen.
Was der EuGH von diesem Coup hält, wird man bald erfahren. Am 28. November diskutiert der EuGH-Präsident Koen Lennaerts bei einer Veranstaltung in Triberg (Baden-Württemberg) mit Stephan Harbarth, dem designierten Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts und jetzigen Vize.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Thüringen
Das hat Erpresserpotenzial
Friedenspreis für Anne Applebaum
Für den Frieden, aber nicht bedingungslos
BSW in Sachsen und Thüringen
Wagenknecht grätscht Landesverbänden rein
Rückkehr zur Atomkraft
Italien will erstes AKW seit 40 Jahren bauen
Klimaschädliche Dienstwagen
Andersrum umverteilen
Tech-Investor Peter Thiel
Der Auszug der Milliardäre aus der Verantwortung