Verfassungsgefüge in Großbritannien: Die Übermacht des Parlaments
Großbritanniens uraltes politisches Machtgefüge beruht auf dem Grundsatz, dass das Parlament über dem Gesetz steht. Das ist nicht länger haltbar.
D ie politische Ordnung des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland ist in Umwälzung. Die sichtbare Dimension dessen ist das tägliche Spektakel im Parlamentssitz an der Themse: die erbitterten Wortgefechte im Unterhaus, die Ordnungsrufe des Sprechers John Bercow, zuletzt der Machtkampf mit Premierminister Boris Johnson. Die unsichtbare, aber zunehmend wahrnehmbare Dimension ist das Knirschen im Gebälk des Machtgefüges der Institutionen, das jetzt mit dem Urteil des britischen Obersten Gerichts gegen Boris Johnsons Parlamentssuspendierung nach einem drohenden Einsturz klingt.
Die oberflächliche Lesart sieht in diesen Geschehnissen eine Selbstbehauptung des Parlaments. Sprecher Bercow ist demnach der mutige Vorkämpfer der parlamentarischen Demokratie, der die Legislative gegenüber der Exekutive verteidigt. Das Oberste Gericht ist ihm zur Seite gesprungen, hat den Premierminister in die Schranken gewiesen und damit das Abgleiten des Landes in eine Johnson-Diktatur gestoppt.
Das ist die Lesart, die in Europa fast ausschließlich vorherrscht. Überzeugend ist sie aber nur, wenn man die historisch gewachsene Verfassungsordnung Großbritanniens und ihre Besonderheiten ausblendet.
Ein Grundsatz dieser ungeschriebenen Verfassung, den jetzt auch das Oberste Gericht hervorgehoben hat, ist die Souveränität des Parlaments – also der Grundsatz, dass das Parlament allein die Quelle des Rechts ist und alle anderen, Regierung eingeschlossen, sich dem zu beugen haben. Der Wunsch nach Wiedererlangung dieser Souveränität ist der zentrale juristische Grund für die Forderung nach dem EU-Austritt gewesen, denn die Mitgliedschaft stellt EU-Recht über nationales Recht und ist damit nur dann nach britischen Verständnis verfassungsgemäß, wenn das britische Parlament frei ist, seine eigene Unterordnung zurückzunehmen, was innerhalb der EU nicht möglich ist.
Das Oberste Gericht hat jetzt festgestellt, dass zur Souveränität des Parlaments nicht nur die Gesetzgebungskompetenz gehört, sondern auch die Macht und die Pflicht, die Regierung zur Rechenschaft zu ziehen. Weil die übermäßig lange Suspendierung seiner Sitzungsperiode durch die Regierung dies einschränkte, war sie rechtswidrig.
Alleinige Quelle des Rechts
So weit, so einfach – aber spätestens ab dieser Stelle steigt ein spezifisch englischer dichter Nebel auf. Die Doktrin der Souveränität des Parlaments besagt nämlich nicht nur, dass das Parlament die alleinige Quelle des Rechts ist. Sie besagt auch, dass niemand dieses Recht in Frage stellen darf: Was das Parlament macht, ist nicht justiziabel. Gesetze, die das Parlament verabschiedet, sind in Großbritannien ebenso wenig gerichtlich überprüfbar wie sämtliche Vorgänge im Parlament selbst: das Gesetzgebungsverfahren, die Geschäftsordnung, die inneren Abläufe. Das Oberste Gericht ist in Großbritannien kein Verfassungsgericht, das ein Gesetz für verfassungswidrig erklären kann. Justiziabel ist nur die Anwendung der Gesetze durch Regierung und Behörden. Eingeschränkt wird all das höchstens durch die Europäische Menschenrechtskonvention, die in britisches Recht übertragen worden ist und nichts mit der EU zu tun hat.
Wer John Bercow als Hüter des Rechts zujubelt, sollte also nicht vergessen, dass der Mann über dem Gesetz steht. Er kann die Geschäftsordnung verändern oder neu auslegen, und niemand kann gegen ihn vorgehen. Eine Mehrheit im Parlament kann theoretisch beschließen, was sie will. Die Unangreifbarkeit des Parlaments und seiner inneren Funktionsweise ist auch schon, bevor der Brexit alles überlagerte, in die Kritik geraten: Sie macht nämlich auch die Ahndung sexueller Übergriffe oder Mobbing innerhalb des Hauses unmöglich, sofern die Parlamentarier sich sperren.
Grundlage der Übermacht des Parlaments ist ein vormoderner Verfassungsgrundsatz: In Großbritannien ist nicht der Volk der Souverän, sondern der Monarch. Dieser ist Teil des Parlaments. Crown In Parliament heißt das in Großbritannien. Verabschiedete Gesetze werden erst dadurch Recht, dass die Monarchin sie in Kraft setzt. Die Queen eröffnet jede Sitzungsperiode des Parlaments mit der Queen’s Speech, der Regierungserklärung mit dem Regierungsprogramm, das von den Abgeordneten abzuarbeiten ist; und schließt sie wieder mit der prorogation, die jetzt für so viel Wirbel gesorgt hat. Namhafte Juristen kritisieren deshalb die Entscheidung des Obersten Gerichts, das die prorogation zu einem von außen oktroyierten und nur dadurch justiziablen Vorgang erklärt.
Das alles ist weder mit einer modernen Gewaltenteilung noch mit einem Verfassungsstaat vereinbar. Das gilt vor allem dann, wenn einzelne Kräfte im Parlament ihre Macht ausnutzen. Sprecher Bercow entzieht regelmäßig der Regierung die Hoheit über die Tagesordnung und lässt Gesetze im Eilverfahren passieren. Gewählte Abgeordnete verlassen zu Dutzenden ihre Parteien und Fraktionen und verändern damit die Mehrheitsverhältnisse, ohne sich ihren Wählern zu stellen. Dem Wunsch nach einer vorzeitigen Parlamentsauflösung und Neuwahlen sperren sich die Abgeordneten, weil sie diese Allmacht auskosten wollen. Sie setzen auch ihre eigenen Beschlüsse zur Klärung der EU-Mitgliedschaft Großbritanniens durch eine Volksabstimmung nicht um.
Es sind diese Konflikte, die die britische Politik an den Rand des Abgrunds treiben. Eine Renovierung des Verfassungsgefüges ist dringend geboten. Sie kann nicht darin bestehen, das Parlament noch mächtiger zu machen. Vielmehr muss eine klare Gewaltenteilung alle Gewalten an verfassungsgemäßes Handeln binden.
Möglich wird das wohl erst nach dem Brexit. Zugleich verhindert die aktuelle Krise den Vollzug des Brexit. Der Oktober dürfte für Großbritanniens politische Kultur ein Schicksalsmonat werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Stellenabbau bei Thyssenkrupp
Kommen jetzt die stahlharten Zeiten?
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Greenpeace-Mitarbeiter über Aufrüstung
„Das 2-Prozent-Ziel ist willkürlich gesetzt“
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Iran als Bedrohung Israels
„Iran könnte ein Arsenal an Atomwaffen bauen“