Ver.di-Verhandlerin über Sparpolitik: „Es gibt einen Trend zu mehr Armut“
Hamburg sollte – wie Bremen – auf einen Sparhaushalt verzichten, sagt Ver.di-Frau Sieglinde Frieß. Nach Corona würden sich die Einnahmen erholen.
taz: Frau Frieß, warum fordern Sie für die Beschäftigten des Staates fünf Prozent mehr Lohn?
Sieglinde Frieß: Wenn wir die wirtschaftliche Entwicklung und die Inflation betrachten, dann müssten wir eigentlich viel mehr fordern. Fünf Prozent sind folglich völlig richtig.
Die Inflation liegt darunter.
Aber 4,5 Prozent ist die Zahl im Oktober. Die Lebensmittel werden teurer, zum Teil über 10 Prozent. Da sind fünf Prozent moderat, um den Kollegen eine Grundlage zu bieten, in teuren Städten wie Hamburg zu leben.
Hamburg muss jetzt sparen.
Das finde ich nicht. Die Stadt gab sich selber eine Schuldenbremse, die sie an nötigen Investitionen hindert. Sparen kann man auch, indem man heute Dinge gut regelt, damit sie später nicht so teuer werden. Die Betreuung von Menschen in Not wurde über die Jahre abgebaut. So verschärfen sich Probleme, anstatt dass man sie anpackt.
Welche Gruppe meinen Sie?
Durch Corona hat sich die Armut verfestigt, wenn nicht gar erhöht. Ein hoher Anteil von Menschen nimmt nicht mehr am gesellschaftlichen Leben teil. Um denen zu helfen, arbeiten viele Kolleg*innen bei der Stadt. Das sind aber zu wenige. Menschen in Armut werden mehr, die anderen nicht. So gibt es eine Negativentwicklung, anstatt über Investitionen in Personal einen Abbau an Prekarität hinzubekommen.
Wie man liest, rechnet die Stadt bis 2024 mit 4,7 Milliarden Euro Einnahmeverlusten.
Das ist eine Mär, denn sie vergleicht sich immer mit dem Jahr 2019. 2019 war ein Boomjahr. Alle Haushälter waren begeistert, weil in Hamburg die Einnahmen von knapp 13 auf 14 Milliarden Euro stiegen. Eine Milliarde mehr. Wunderbar. In 2018 sah das mit 13 Milliarden noch anders aus. Jetzt vergleicht sich Hamburg mit dem Sonderjahr 2019. Wir sehen jedoch, dass die Einnahmen in 2020 stagnierten und in 2024 fast wieder die 14 Milliarden erreichen. Das heißt: Corona bewirkte ein Loch, was aber zu normalen Haushaltsjahren fast schon wieder geschlossen wird. Klar: Man musste in der Pandemie erhöht Schulden machen. Aber da ist auch die Frage, wie schnell die abgebaut werden.
Da gibt es Unterschiede?
62, ist stellvertretende Landesbezirksleiterin von Ver.di Hamburg und begleitet am 1. und 2. November die zweite Runde der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienst in Potsdam.
Ja. Hamburg will sie in 20 Jahren abbauen. In NRW planen sie 50 Jahre. Das ist eine ganz andere Nummer. Aber Hamburg will so schnell als möglich die schwarze Null erreichen, egal, was kommt. Und auf der Basis schauen sie jetzt schon, wie sie Einschnitte vornehmen. Es heißt, unsere Forderung sei zu hoch. Die Kollegen schnitten sich damit ins „eigene Fleisch“, weil sie dann Personal abbauen müssen.
Laut Bild muss Hamburg bis 2024 4,5 bis 5 Prozent sparen.
Es wäre mutig, das jetzt schon zu entscheiden. Wir erleben, dass sich täglich die Zahlen ändern. Vor einem halben Jahr hieß es, die Wirtschaft wächst um 1,8 bis zwei Prozent, jetzt ist es schon über zwei Prozent. Die Prognose für 2022 liegt bei über drei Prozent. Da eine Sparquote zu planen, wäre falsch. Denn durch Corona sind wir in der Pflicht zu investieren, wo wir Lücken erkannt haben, um die Menschen besser abzusichern. Zum Beispiel bei den Gesundheitsämtern und im Gesundheitswesen.
Bremen verzichtet wegen Corona auch für 2022 und 2023 auf einen Sparhaushalt.
Das finde ich richtig. In der jetzigen Lage kann man sagen: Wir sparen nicht, sondern schauen uns das in Ruhe an.
Sie fordern mehr Beschäftigte. Wie viele? Welchen Maßstab wenden Sie dafür an?
Hamburg geht davon aus, dass in den nächsten Jahren jedes Jahr zusätzlich 10.000 in die Stadt kommen. Allein das führt zu zusätzlichem Bedarf an Personal.
Und dabei hat Hamburg zuvor ja viel Personal abgebaut.
Ja. 1992 gab es noch rund 100.000, jetzt sind für die selben oder sogar mehr Aufgaben etwa 70.000 zuständig. In der Coronazeit wurde offenbar, wo es total eng ist. In der sozialen Absicherung, in der sozialen Verwaltung, im Gesundheitswesen, überall entstanden höhere Anforderungen. Es wurde klar: Das Personal reicht für Krisen nicht aus. Auch in den Schulen wurde der Unterricht nicht coronafest, weil Personal fehlte. Da müssen wir schauen: Was brauchen wir in der Zukunft?
Aber es gibt im aktuellen Haushalt mehr Personal. Zum Beispiel über 800 Lehrerstellen und rund 800 Polizisten.
Bei Schule und Polizei gab es Zuwachs, weil sie selbst festgestellt haben: Da gibt es Bedarf.
Brauchen wir 800 Polizisten?
Ob man hier mehr braucht, muss politisch erörtert werden. Bei den Lehrer*innen ist das durch den Zuwachs keine Frage. Aber da muss auch das Umfeld mitbedacht werden. Ob auch die Schulbüros oder die Soziale Arbeit gut ausgestattet sind, da denken sie überhaupt nicht nach. Der Senat hat auch in den Gesundheitsämtern Personal aufgestockt und sie haben in etlichen Bereichen zumindest nachgebessert. Aber anstatt jetzt den notwendigen Bedarf zu ermitteln, wollen sie wieder runterfahren – ohne ein Konzept.
Mit einer Personalbremse'?
Genau. Sie wollen bremsen. Denn es sind in den letzten Jahren pro Jahr ungefähr 1.000 Leute zusätzlich eingestellt worden. Das dürfe nicht mehr passieren. Sie wollen – trotz Zuwachs der Bevölkerung – höchstens im Schulbereich und bei der Polizei noch erhöhen. Die anderen Bereiche müssen bei dieser Strategie der Bremse dann „bluten“. Es gibt von der Linkspartei diese Sozialstudie über Auswirkungen der Krise. Bei der noch sehr geringen Datenlage ist jetzt schon zu erkennen, dass es einen Trend zu mehr Armut in der Stadt gibt. Wir müssen deshalb dringend, wenn Corona zu Ende ist, ein vernünftiges Personalkonzept diskutieren.
Sie streiten für die Beschäftigten. Wird woanders gespart, etwa bei Stadtteilprojekten, würde Ver.di protestieren?
Merken wir, dass die Sparpolitik in der breiten Gesellschaft zu Notsituationen führt, würden wir selbstverständlich mit anderen im Bündnis für eine gute ausgebaute soziale Stadt kämpfen. In Projekten arbeiten übrigens auch Ver.di-Mitglieder.
Sollten Bund und Länder die Schuldenbremse abschaffen?
Wir brauchen sie für gutes politisches Handeln nicht. Die Schuldenbremse sagt ja im Prinzip: Ihr Parlamentarier seit zu doof, abzuwägen. Aber Parlamentarier können ja immer entscheiden, wie viel sie ausgeben. Eine politische Debatte über eine gute Zukunft und Investitionen für alle ist eindeutig sinnvoller als gesetzliche Bremsen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Comeback der K-Gruppen
Ein Heilsversprechen für junge Kader
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe