Ver.di-Frau über die Pflegekammer: „Bürokratisches Monster“
Ver.di will gegen die Zwangsbeiträge der Pflegekammer in Niedersachsen klagen. Die seien zu hoch, sagt Aysun Tutkunkardes – und die Kammer nicht im Sinne der Pflegenden.
taz: Frau Tutkunkardes, warum wollen Sie gegen die niedersächsische Pflegekammer klagen?
Aysun Tutkunkardes: Wir haben große rechtliche Bedenken, ob die Zwangsbeiträge verhältnismäßig sind. Die Frage ist: Steht die Zwangsmitgliedschaft in einer Pflegekammer und der damit verbundene Grundrechtseingriff im Verhältnis zu dem, was die Pflegekräfte von der Pflegekammer erwarten dürfen.
Und Sie glauben, dass die Pflegekräfte zu wenig dafür kriegen?
Genau. Zum einen ist der Beitrag deutlich zu hoch angesetzt und zum anderen ist die Zwangsmitgliedschaft ein ungerechtfertigter Eingriff in die Vereinigungsfreiheit, die im Grundgesetz verankert ist.
Niemand darf gezwungen werden, Mitglied in einer Organisation zu werden.
46, ist bei Ver.di zuständig für die Schwerpunkte Altenpflege und Berufspolitik.
Genau, die einzige Ausnahme sind Körperschaften öffentlichen Rechts in Form einer Kammer. Und auch die Auswahl der Zwangsmitglieder ist problematisch. Wir haben etliche Fälle von KollegInnen, die gar nicht mehr in der Pflege arbeiten und trotzdem verkammert wurden, weil sie den Beruf ja potenziell ausüben könnten.
Aber im Kammergesetz steht doch, dass nur diejenigen Mitglied werden müssen, die die Qualifikation für einen Pflegeberuf haben und den Beruf gleichzeitig in Niedersachsen ausüben.
Ausüben und ausüben könnten. So legt es die Kammer aus. Wir haben Fälle von KollegInnen, die als Sozialpädagogen in Einrichtungen der Behindertenhilfe arbeiten und deren Stellenbeschreibung nichts mehr mit Pflege zu tun hat und die trotzdem verkammert worden sind.
Sie kritisieren, dass die Beiträge von 0,4 Prozent des Jahresgehaltes zu hoch sind. Bei Ver.di müssen die Mitglieder ein Prozent bezahlen.
Die Einführung der Pflegekammer wurde im Dezember 2016 vom niedersächsischen Landtag beschlossen.
Aufgabe der Kammer ist es, die beruflichen Belange der Pflegekräfte in Niedersachsen wahrzunehmen. Sie gibt Empfehlungen ab, um die Qualität der Berufsausübung zu sichern und zu verbessern. Sie berät ihre Mitglieder, schlichtet Streit und organisiert Weiterbildungen. Außerdem berät die Kammer Behörden zur Gesetzgebung.
Die Mitgliedschaft ist für Menschen, die einen Pflegeberuf erlernt haben und in Niedersachsen ausüben, verpflichtend, ebenso die Beiträge.
Einmal im Jahr verschickt die Pflegekammer eine Rechnung und gibt darin den Höchstsatz von 280 Euro an. Die Mitglieder müssen der Kammer dann ihre tatsächlichen Jahreseinkünfte mitteilen und bekommen dann den einen neuen Beitragsbescheid mit individueller Summe – 0,4 Prozent des Jahresgehalts.
An diesem Beitragssystem kam, nachdem im Dezember erstmalig die Bescheide verschickt wurden, große Kritik auf. Mittlerweile haben mehr als 42.000 Menschen eine Online-Petition zur Abschaffung der Kammer unterzeichnet.
Sie sind aber freiwillig Mitglied. Das ist der wesentliche Unterschied.
Ist Ver.di Gegner der Kammer, die sich selbst als Parlament der Pflegenden bezeichnet, weil sie Konkurrenz für die Gewerkschaften bedeutet?
Nein. Die Gewerkschaft bleibt trotz der Kammer sehr wichtig. Denn die hat ja überhaupt keinen Einfluss auf die Lohngestaltung und wird nie Tarifverhandlungen führen können. Das ist eine unserer Kernaufgaben.
Aber auf die Gestaltung der Arbeitsbedingungen hätte sie doch schon Einfluss.
Nein. Der Auftrag der Pflegekammer ist nicht die politische Vertretung der Pflegekräfte, sondern die Bevölkerung vor schlechter Pflege zu schützen. Das hat primär nichts mit den Arbeitsbedingungen der Beschäftigten zu tun.
Die Kammer kann aber ein Ansprechpartner für die Landespolitik sein und Forderungen für bessere Bedingungen äußern.
Theoretisch schon. Aber die Politik hätte in der Vergangenheit auch ohne die Kammer schon etwas an den Arbeitsbedingungen verbessern können. Es gab schon immer Verbände und Gewerkschaften, die sich dafür eingesetzt haben. Warum sollte die Politik jetzt der Kammer zuhören? Außerdem ist letztlich der Arbeitgeber dafür verantwortlich, für gute Arbeitsbedingungen zu sorgen und auf den hat die Kammer keinen Einfluss. Sanktionen gibt es nur für Kammermitglieder.
Das heißt?
Die Pflegekammer wird ihre Mitglieder über eine Berufsordnung zu Standards verpflichten, und wenn sie die nicht einhalten können, folgen Sanktionen.
Das Problem wäre dann, dass die Pflegenden die Einhaltung der Standards gar nicht in der Hand haben, wenn die Arbeitgeber die Rahmenbedingungen nicht schaffen?
Genau. Als Beispiel: Am Wochenende muss ich als Pflegekraft mit einer Hilfskraft alleine 20 schwerstkranke Patienten versorgen, weil sich morgens die anderen krank gemeldet haben. Wenn ich dann die Patienten nicht lagern kann, kann ich doch als Pflegekraft nicht dafür haftbar gemacht werden. Ausreichend Personal ist Aufgabe des Arbeitgebers.
Fordern Sie die Abschaffung der Kammer?
Wir fordern zumindest eine Vollerhebung unter den Pflegekräften. Die Landesregierung hat im Koalitionsvertrag festgeschrieben, dass es 2020 eine Evaluation geben soll. Unsere Forderung lautet: Macht die Erhebung jetzt und fragt jede einzelne Pflegekraft, ob sie die Kammer will. Bei über 40.000 Unterschriften bei der Online-Petition sehen wir derzeit nicht, dass es eine Mehrheit dafür gibt.
Nach der Wahl zur Versammlung der Pflegekammer hat sich Ver.di ziemlich dafür gefeiert, dass sie dort mit acht von 31 Plätzen die stärkste Fraktion bilden. Sind Sie jetzt gegen oder sind Sie Teil der Kammer?
Als Organisation sind wir nicht Teil der Kammer. Wir haben versucht, die Kammer zu verhindern, weil wir sie für ein bürokratisches Monster ohne Zusatznutzen halten. Aber jetzt wo sie da ist, versuchen unsere Ver.di-Mitglieder in der Kammer, die Interessen der Beschäftigten zu vertreten.
Stimmt es, dass die Ver.di-Mitglieder im Errichtungsausschuss dafür gestimmt haben, dass in diesem Brief, der bei PflegerInnen jetzt so großen Protest ausgelöst hat, die Höchstgrenze von 280 Euro genannt war?
Unsere Ver.di-Mitglieder haben sich vehement dafür eingesetzt, dass es keinen Festbetrag, sondern einen prozentualen Beitrag gibt, der eine soziale Staffelung mit sich bringt. Außerdem war vorher ein höherer Satz als 0,4 Prozent im Gespräch, den sie verhindert haben.
Wenn eine solche Höchstgrenze in den Bescheiden genannt wird und diese einem Verdienst entspricht, den in der Pflege kaum jemand erreichen kann, nämlich 70.000 Euro im Jahr, wirkt das provokant. Wollten Sie gezielt Proteste auslösen?
Nein, das weise ich von uns. Wir haben frühzeitig vor diesem Verfahren gewarnt, erst den Höchstbetrag festzusetzen und dann von den Leuten zu fordern, dass sie selbst aktiv werden und ihr tatsächliches Einkommen melden, damit sie den individuellen Beitrag erfahren.
Macht die Kammer den Beruf unattraktiver?
Ja, weil ich wahrnehme, dass KollegInnen sich ernsthaft überlegen, wenn sie mobil sind, in andere Bundesländer zu gehen. Die Masse wird das nicht können. Die Frage ist aber umgekehrt: Wird die Kammer den Beruf für junge Leute attraktiver machen? Das sehe ich nicht.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Streit um Russland in der AfD
Chrupalla hat Ärger wegen Anti-Nato-Aussagen