Verdächtiger nach Berliner Anschlag: Der lange Weg des Anis Amri
Er saß auf Sizilien in Haft. In Deutschland wurde er als Gefährder observiert, fiel aber nur als Kleindealer auf.
Bereits seit Mittwoch fahnden die Behörden europaweit öffentlich nach dem Mann: Bundesanwaltschaft und Bundeskriminalamt haben die Bevölkerung in einem Aufruf um Mithilfe gebeten, 100.000 Euro Belohnung ausgesetzt – und zugleich gewarnt: „Er könnte gewalttätig und bewaffnet sein!“ Das Schreiben wurde auch auf Arabisch, Dari, Farsi und Urdu veröffentlicht.
Auf Amris Spur gekommen sind die Ermittler durch eine Geldbörse, die im Führerhaus des Sattelschleppers lag. Darin steckten seine Duldungspapiere. Dieser Fund mache ihn aber „nicht zwingend“ zum Täter, mahnte der Innenminister noch am Mittwoch. De Maizière ist vorsichtig, nachdem die Behörden zuerst einen pakistanischen Flüchtling festgenommen hatten, der offenkundig unschuldig ist.
Über den Tunesier, der nun im Fokus der Ermittlungen steht, ist inzwischen einiges bekannt: 1992 geboren in Tataouine im Süden Tunesiens, nicht weit der libyschen Grenze, wuchs er in Oueslatia auf – einem öden Ort nordwestlich vom touristischen Kairouan, der viertheiligsten Stätte der islamischen Welt.
Aus dem Armutsgürtel des Hinterlands
Die 9.000 Einwohner zählende Kleinstadt Oueslatia liegt im Armutsgürtel des Zentraltunesischen Hinterlands, nicht weit entfernt von Sidi Bouzid, wo die tunesischen Aufstände vor rund sechs Jahren ausgebrochen sind und den „Arabischen Frühling“ auslösten.
Oueslatia und der Armutsgürtel gehören zu einer Region, die seit Jahrhunderten von jeder Entwicklung abgehängt ist. Heute sind sie auch Zentren der Salafisten, die die größte Moschee des Ortes dominieren. Von hier aus sind viele jugendliche Kämpfer nach Libyen gezogen.
Mit 15 Jahren, so berichten tunesische Medien, verlässt Amri die Schule. Von da an schlägt er sich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Seine zehnköpfige Familie soll bis heute unter äußerst bescheidenen Verhältnissen in der Kleinstadt leben. Der Vater ist nach einem Unfall behindert, die Ehe geschieden, berichtet der örtliche Sender Mosaique FM. Und: Auch in Tunesien habe Amri Haft gedroht. Er sei dort in Abwesenheit wegen schweren Raubs zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt worden, meldet der Sender unter Berufung auf tunesische Sicherheitskreise.
Freunde von Amri wollen wissen, dass dieser vor seiner Ausreise nach Europa selbst nicht besonders religiös gewesen sei und auch Alkohol getrunken habe. Auch nach Aussagen des tunesischen Innenministeriums existieren keine Unterlagen zu Amri, welche eine Nähe zu islamistischen Strömungen dokumentierten.
Das ist plausibel: Islamistische Bewegungen und vor allem die Salafisten mit ihrem radikalsten Zweig, Ansar al-Scharia, haben erst ab dem Frühjahr 2011 weitgehend freie Hand in Tunesien, um desorientierte Jugendliche zu indoktrinieren.
Migration nach dem Sturz des Diktators
Der Vater Amris sagt gegenüber dem Sender, Amri habe sein Heimatland vor sieben Jahren – also 2009 – verlassen. Nach Aussagen des tunesischen Innenministeriums hingegen verlässt Amri wie Zehntausende seiner Landsleute Tunesien Anfang 2011 Richtung Italien – kurz nach dem Sturz von Diktator Ben Ali, dem ersten Umsturz des Arabischen Frühlings.
Für Italien haben die Turbulenzen in Tunis unmittelbare Folgen: Als Staatschef hat Ben Ali bis dahin engmaschige Kontrollen an der tunesischen Küste garantiert und damit die Abfahrt von Flüchtlingsschiffen über Jahre hinweg fast komplett unterbunden.
Anfang 2011 bricht dieses Kontrollsystem zusammen, und allein bis Anfang April jenes Jahres treten etwa 26.000 Tunesier – fast alle junge Männer – die Überfahrt gen Lampedusa und Sizilien an. In einem Abkommen vom 5. April erreicht Italien von der tunesischen Übergangsregierung die Zusage, die Kontrollen wieder aufzunehmen – und alle Tunesier, die nach diesem Datum nach Italien gelangen, wieder zurückzunehmen.
Anis Amri soll im Februar 2011 in Italien eingetroffen sein, berichten italienische Medien. Den Behörden dort erklärt der 1992 Geborene, er sei 17 Jahre alt. Deshalb kommt er in ein Heim für minderjährige Flüchtlinge in der sizilianischen Kleinstadt Belpasso unweit von Catania und in die örtliche Schule.
Am 24. Oktober 2011 meldet die Website Blogsicilia.it die Festnahme dreier Tunesier. Die drei – darunter Anis Amri – hatten einen Mitarbeiter des Flüchtlingsheims verprügelt und dann einen Brand gelegt. Grund: Ihr Anerkennungsverfahren als Flüchtlinge zieht sich hin, und sie nehmen Anstoß an dem Essen in der Einrichtung.
Vier Jahre Haft
Wegen Brandstiftung, Körperverletzung und Bedrohung wird Amri daraufhin zu vier Jahren Haft verurteilt. Er sitzt seine Strafe erst im Jugendgefängnis Catania, dann in Palermo ab. Die Website der Tageszeitung La Stampa berichtet, auch im Gefängnis sei er als „gefährliches Subjekt“ eingestuft worden. Im Mai 2015 wird er aus der Haft entlassen – jedoch unmittelbar in die Abschiebehaftanstalt Caltanissetta überstellt, mit einer Ausweisungsverfügung.
Doch wie in den großen Mehrzahl der Fälle gelingt es auch bei Amri nicht, ihn tatsächlich nach Tunesien abzuschieben. Warum? Il Tempo schreibt, Tunesien habe nicht rechtzeitig die benötigten Dokumente ausgestellt. La Repubblica wiederum berichtet, Tunesien habe sich geweigert, Anis Amri zurückzunehmen. Nach 30 Tagen wird er endgültig in die Freiheit entlassen. Wie alle Ausgewiesenen soll er Italien binnen sieben Tagen erlassen.
Im Juli 2015 kommt er nach Deutschland. Der junge Tunesier sei „hochmobil“ gewesen, berichtet Nordrhein-Westfalens Innenminister Ralf Jäger (SPD). Amri taucht zunächst in Freiburg in Baden-Württemberg auf, dann in Nordrhein-Westfalen und Berlin – dort habe er seit Februar 2016 überwiegend gelebt.
Ein Asylantrag wird im Juni dieses Jahres vom zuständigen Bundesamt abgelehnt, die Behörden in Kleve (NRW) betreiben seine Ausweisung. Er kann aber nicht abgeschoben werden, weil er keine gültigen Ausweispapiere hat.
Erst jetzt hat Tunesien Ersatzpapiere ausgestellt: Sie treffen an diesem Mittwoch ein – zwei Tage nach dem Anschlag in Berlin mit zwölf Toten und fünfzig zum Teil lebensgefährlich Verletzten.
Kontakt zur islamistischen Szene in Deutschland
Bis zu dieser Woche ist Amri allerdings auch in Deutschland kein unbeschriebenes Blatt: Mehrere Behörden haben den Mann in den vergangenen Monaten beobachtet. Amri benutzt mehrere Aliasnamen und gilt als „islamistischer Gefährder“. Er soll Kontakt zur radikal-islamistischen Szene gehabt haben. Dafür, dass er zum Kreis des kürzlich verhafteten Abu Walaa gehört, gibt es aber offenbar doch keine Belege. Der Hildesheimer Prediger Abu Walaa ist ein „Chefideologe“ der Salafistenszene.
In Berlin ermittelt zeitweise der dortige Generalstaatsanwalt gegen den Tunesier wegen des Verdachts der Vorbereitung einer staatsgefährdenden Gewalttat. Nach Angaben der Behörde hat es Hinweise auf einen geplanten Einbruch gegeben, um Geld für den Kauf von Waffen zu beschaffen – möglicherweise für einen Anschlag. Amri wird daher von März bis September dieses Jahres überwacht. Die Observierung und Überwachung der Kommunikation sei sogar verlängert worden, habe aber keine Hinweise auf ein staatsschutzrelevantes Delikt erbracht, erklärte die oberste Berliner Ermittlungsbehörde.
Stattdessen gab es nur Hinweise, dass er als Kleindealer im Görlitzer Park tätig sein könnte, einem bekannten Drogen-Umschlagplatz in Berlin. Diese Erkenntnisse wurden laut Generalstaatsanwaltschaft zur Strafverfolgung an die zuständigen Stellen weitergeleitet, die Observation eingestellt. Zuletzt haben sich die Sicherheitsbehörden von Bund und Ländern im November im Terrorismusabwehrzentrum in Berlin über den jungen Tunesier ausgetauscht.
Als die Fahndungsfotos mit dem Antlitz Amris am Donnerstag um die Welt gehen, reagiert die Familie zu Hause im tunesischen Oueslatia entsetzt: „Wenn er das getan hat, dann hat er Schande über uns gebracht“, sagt sein Bruder Abdelkader Amri gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters. „Aber ich bin mir sicher, dass er es nicht war.“ Der Bruder sei nach Europa gegangen, um zu arbeiten und der Familie zu helfen.
Ein anderer Bruder will es nicht glauben, dass Anis Amri Verbindung zum Terrorismus habe: Anis Amri habe ihm gesagt, dass er im Januar nach Tunesien komme und dass er sich für ein Projekt ein Auto gekauft habe. Gegenüber Sky News Arabia sagt Abdelkader: Wenn Anis ihm zuschaue, würde er ihm sagen wollen: „Möge Gott dir dafür vergeben, dass du uns in diese Lage gebracht hast. Dein Vater und deine Mutter weinen.“
Lesen Sie auch: Inken Bartels über die Flüchtlingspolitik in Tunesien
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