piwik no script img

Verbrechen in KanadaGewaltausbruch im Reservat

Zwei Tatverdächtige, die zehn Menschen massakriert haben sollen, sind selbst tot. Das wirft ein Schlaglicht auf die Situation in indigenen Gemeinden.

Feuerwehrleute versammeln sich am Mittwoch am Ort, an dem ein Tatverdächtiger verhaftet wurde Foto: dpa

Calgary taz | Seine Eltern flehten ihn an, dem Grauen endlich ein Ende zu bereiten. „Myles, mein Junge, bitte stelle Dich. Bitte. Du kannst das. Tue das Richtige“, beschwor die Mutter über das Fernsehen ihren flüchtigen Sohn. Der Vater fügte nicht minder eindringlich hinzu: „Ich möchte nicht, dass noch mehr Menschen zu Schaden kommen. Bitte, mein Sohn, ich liebe Dich, aber bitte stelle Dich. Pass gut auf Dich auf.“

Doch Myles Sanderson hörte nicht auf seine Eltern. Er blieb auf der Flucht und wurde am Mittwoch wenige Stunden später von der Polizei nach einer Verfolgungsjagd in einem gestohlenen Truck in einem Straßengraben am Highway gefasst. Danach überschlugen sich die Ereignisse. Kurz nach der Festnahme erlitt er einen Zusammenbruch und wurde in ein Krankenhaus gebracht, wo er für tot erklärt wurde.

Der Tod des einzig verbliebenen Tatverdächtigen markiert das vorläufige Ende eines der schwersten Gewaltverbrechen in der jüngeren Geschichte Kanadas. So geschehen nur etwa eine Autostunde vom ursprünglichen Tatort im Reservat der James Smith Cree Nation entfernt, wo der 32-jährige am Sonntag mit seinem Bruder zehn Menschen mit Messerattacken umgebracht und 19 schwer verletzt haben soll.

Danach war Sanderson drei Tage lang auf der Flucht gewesen und hatte die Menschen in der Region, die von vielen indigenen Kanadiern bewohnt wird, in Angst und Schrecken versetzt. „Wir alle können nun beruhigt sein, dass von dem Verdächtigen keine Gefahr mehr ausgeht“, sagte die Polizeichefin der Provinz Saskatchewan, Rhonda Blackmore, bei einer Pressekonferenz am späten Mittwochabend.

Unklare Motive

Über die Motive der Bluttat gibt es weiterhin keine Erkenntnisse. Nach dem Tod Sandersons werde man womöglich nie erfahren, was diesen bei seinem Massaker angetrieben habe, sagte Blackmore. Dessen Bruder und mutmaßlicher Komplize, Damien Sanderson, war bereits am Montag tot aufgefunden worden. Nicht ausgeschlossen, dass der ältere auch den jüngeren Bruder ermordete.

In Kanada war Myles Sanderson wegen Mordes, versuchten Mordes und Einbruch angeklagt. Auch der Bruder war angeklagt worden, bevor er am Montag seinerseits tot aufgefunden wurde. Die Ermittler gehen davon aus, dass die beiden einige der Opfer gezielt getötet hatten, andere jedoch zufällig in die Auseinandersetzungen hineingezogen wurden. Die Opfer waren zwischen 23 und 78 Jahren alt. Viele lebten im Reservat von James Smith Cree Nation.

Myles Sanderson war bei den Behörden kein Unbekannter. Laut Gerichtsakten hatte er viele Vorstrafen, unter anderem wegen Körperverletzung, Raubüberfalls und Diebstahls. Wegen dieser und anderer Vergehen war er zu mehr als vier Jahren Haft verurteilt worden, im Winter jedoch auf Bewährung frei gekommen. Die Behörden hatten das Risiko eines Rückfalls damals als gering eingeschätzt.

Allerdings hatte er schon kurz nach seiner Freilassung gegen Bewährungsauflagen verstoßen und wurde seit Mai offiziell gesucht. Aus den Akten geht auch hervor, dass Sanderson bereits vor sieben Jahren eines jener Opfer niederstach und verletzte, das am Sonntag getötet wurde. Zu den medizinischen Umständen des Todes von Sanderson nach der Festnahme machte die Polizei bislang keine Angaben.

Ein Schock

Für die vielen indigenen Bewohner im Norden der zentralkanadischen Region Saskatchewan sind die Ereignisse ein Schock. „Wir haben in den letzten Tagen viele Tränen vergossen“, sagte Häuptling Mark Arcand, der bei den Messerangriffen seine Schwester und seinen Neffen verloren hatte. Dass die verdächtigen Brüder selbst Ureinwohner sind, liegt nahe, wurde aber offiziell nicht thematisiert.

Den Akten der Bewährungshelfer ist zu entnehmen, dass Sanderson wohl schon seit jungen Jahren immer wieder unter Alkohol- und Drogenproblemen gelitten hatte und zu Gewaltausbrüchen und häuslicher Gewalt neigte. In einem Fall soll er laut Berichten in Rage die Tür eines Badezimmers zertrümmert haben, in dem sich Kinder verschanzt hatten, um sich vor ihm zu schützen.

Gewaltexzesse, wie die im Reservat der James Smith Cree Nation, sind in Kanada kein Einzelfall. In vielen von Indigenen bewohnten Regionen ist der Lebensstandard bis heute niedriger, die Armut größer und die Kriminalitätsrate höher als im Rest des Landes. Laut kanadischer Statistikbehörde liegt die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Tötungsdeliktes zu werden, für indigene Bewohner in Kanada sechsmal höher als für nicht-indigene.

Experten in Kanada führen die Gewalt auch auf die Folgen der kulturellen Entfremdung zurück, die bis in die Zeiten der Kolonialisierung zurückreichen. Beispielsweise war vielen Ureinwohnern bis ins letzte Jahrhundert hinein die Nutzung der eigenen Sprache oder die Pflege traditioneller Riten untersagt. Indigene Kinder mussten Internate besuchen, um sie zu zwingen, sich an die westliche Gesellschaft anzupassen. Viele starben daran.

Das kulturelle Trauma setzte sich bis in die Neuzeit von Generation zu Generation fort. Zwar hat sich die Regierung in Kanada für die diskriminierenden Praktiken entschuldigt, fördert mittlerweile die kulturelle Eigenständigkeit der Ureinwohner und zahlt hohe Entschädigungen, was den Wohlstand vieler indigener Gemeinden verbessert hat. Die Aufarbeitung der Vergangenheit aber hat gerade erst begonnen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

7 Kommentare

 / 
  • "Experten in Kanada führen die Gewalt auch auf die Folgen der kulturellen Entfremdung zurück, die bis in die Zeiten der Kolonialisierung zurückreichen."

    Und was ist in den letzten 100 Jahren danach passiert? Nichts?

    Das Interesse an der aktuellen Situation der Indigenen erscheint mir nicht allzu hoch. Es wird nicht einmal aufgeführt was die Experten in Kanada aktuell an kultureller Entfremdung sehen. Auf welche Experten beruft man sich da überhaupt?

    Was ist z.B. mit dem Zerfall von Gemeinschaften durch Wegzug der Jungen. Oder durch neue anonyme Strukturen in trostlosen Städten in denen man arbeitslos, weil es schlicht keine Arbeit gibt, vor der Glotze hängt?

    Der Artikel ist mir deutlich zu unterkomplex.

    • @Rudolf Fissner:

      Vielleicht gehen Sie auch zu unterkomplex an die Sache heran? Direkt unter dem Artikel ist ein solcher verlinkt, der Ihrer Fragen weitgehend beantworten kann. taz.de/Indigene-in-Kanada/!5775847/



      Freilich hatte Ihnen eine kurze Internet-Recherche hier auch weitergeholfen.

  • Ich möchte mal den Armutsbegriff hinterfragen, gerade im Hinblick auf die hier am Ende des Artikels genannte "kulturelle Entfremdung", der ja durch die Rücknahme der wirklich schlimmen Gesetze, die zur Anpassung zwingen sollten, entgegen gewirkt werden soll.

    Wenn den Ureinwohnern aber ermöglicht werden soll, nach ihrer traditionellen Kultur zu leben, dann ist das ein "Reichtum", der nicht in Geld zu messen ist und der natürlich nicht durch ein Depot voller Amazon-Aktien und mehrere Privatjets definiert werden kann.

    • @Dr. McSchreck:

      Soll dieser Zynismus etwa ernst gemeint sein?



      Sie stellen sich wohl vor, dass alle zurück ins Reservat ins Wigwam abgeschoben werden und dann "gut isses"?



      Vielleicht hellt dieser Artikel, auch wenn der schon über 10 Jahre alt ist, ihre Perspektive auf:



      www.falter.at/zeit...en-sich/1532380101

      • @Saccharomyces cerevisiae:

        Das hat nichts mit Zynismus zu tun und auch nicht mit "Abschiebung". Die Regionen sind eben keine "Reservate" mehr im klassischen Sinne, wo Indigene als Touristenattraktion möglichst altmodisch leben - sondern Regionen mit Selbstverwaltung, wo man die Traditionen aus eigenem Antrieb fortleben lässt (wie zum Beispiel auch auf bayrischen Dörfern).

        Dort ist eben Geld nicht die erste Priorität.

        • @Dr. McSchreck:

          Nein, die Reservate ("Indian Reserve") sind nicht vergleichbar mit "bayrischen" (sic!) Dörfern, ausgestattet mit der nötigen Infrastruktur und Arbeitsplätzen, sondern abgeschiedene, zersplitterte Gebiete, die bei "Bedarf" auch wieder, z.B. bei Interesse an Rohstoffvorkommen, enteignet werden.



          Die First Nations wurden in abgelegene Gebiete vertrieben, ihre Kinder bis 1996 entführt und in "Residential Schools" "zivilisiert".



          Und jetzt sollen sie nach Jahrhunderten der Unterdrückung Ihrer Meinung nach ohne Kompensation "ihren Dreck alleine machen" (Zitat Wilhelm II)?

          Der "Indianer" braucht also Ihrer Meinung nach kein Geld, er kann ja Subsistenzwirtschaft oder Tauschandel betreiben?

          Si tacuisses, philosophus mansisses

          • @Saccharomyces cerevisiae:

            man meine Aussagen vermutlich kaum noch mehr verdrehen als Sie hier. Dabei belasse ich es dann auch.