Verbrechen der deutschen Kolonialzeit: Protest gegen die Mohrenstraße
An vielen Orten Berlins finden sich Spuren der deutsch-afrikanischen Kolonialzeit. Aktivisten wollen das den Anwohnern bewusst machen.
Sie habe darauf bestanden und ihm den Schatten im Mond gezeigt, „wie von einem Menschen“, und gesagt, der Mensch hieße Peters, er sei Gouverneur in Tansania gewesen und sehr brutal. „An diesem Abend hat sie mir vom deutschen Kolonialismus erzählt, davon, wie viele Menschen Carl Peters hat hängen lassen, sogar seine Angestellte und Geliebte Nangoye, sie hätten ihn Hänge-Peters genannt und mkono wa damu, blutige Hand.“ Dann habe Gott ihn gefangen und zur Strafe in den Mond gehängt.
„Zu Ende war die Geschichte damit noch nicht, denn es gab noch einen anderen hier am Kilimandscharo, der genauso brutal gewesen ist, genannt maafa, schreckliche Katastrophe. Das war Hermann von Wissmann“, sagt Mboro. Die Gräueltaten der beiden dürfe man nicht vergessen, meinte seine Großmutter. „Ich habe es daher gar nicht glauben können, als ich erfahren habe, dass es in Berlin Straßen zu Ehren dieser beiden brutalen Verbrecher gibt.“
Mboro, der Ende der siebziger Jahre aus Tansania nach Deutschland kam, um sein Studium fortzusetzen, ist im Vorstand von Berlin Postkolonial. Bei Stadtrundgängen zur Kolonialgeschichte berichtet er auch von Wissmann, der als Reichskommissar und Gouverneur in der Gegend von Tansania sein Unwesen trieb, in der er aufgewachsen ist. In Berlin sind zwei Straßen nach Wissmann benannt, eine am Neuköllner Hermannplatz, die andere in Grunewald.
Befehlshaber von Söldnertruppen
Seit Langem setzt Mboro sich mit dem Tansania Network für die Umbenennung dieser Straßen ein. Die in der Neuköllner Wissmannstraße ansässige Werkstatt der Kulturen engagiert sich ebenfalls dafür. Denn Wissmann schlug den Widerstand gegen die kolonialen Bestrebungen im damaligen Deutsch-Ostafrika (heute Tansania, Ruanda und Burundi) brutal nieder.
Wissmann war Befehlshaber sogenannter Schutztruppen – ein beschönigender Begriff für Söldnertruppen, die die Handelsinteressen von Unternehmen in den deutschen Kolonien durchsetzen sollten. Außerdem gilt er als Wegbereiter des Maji-Maji-Kriegs, des größten Kriegs unter deutscher Kolonialherrschaft, bei dem auf afrikanischer Seite zwischen 200.000 und 300.000 Menschen umkamen.
Wissmann lebte noch, als die Straßen in Berlin Ende des 19. Jahrhunderts seinen Namen bekamen. Im Mai dieses Jahres haben die Bezirksverordneten von Neukölln nun beschlossen, eine „geschichtliche Aufarbeitung des Straßennamens“ im Dialog mit den Anwohner*innen zu initiieren, um sich kritisch mit der Namensgebung auseinanderzusetzen. Ob die Straße im Zuge dieses Prozesses auch einen neuen Namen erhalten wird, ist offen.
DDR war schneller
M-Straße: Mit politischen Reden und einem Straßenfest fordern verschiedene Initiativen am 23. August ab 17 Uhr die Umbenennung der Mohrenstraße, häufig M-Straße oder Möhrenstraße genannt, um den kolonialrassistischen Namen nicht zu reproduzieren. Sie schlagen vor, die Straße nach dem 1703 in Ghana geborenen Anton Wilhelm Amo zu benennen, der als erster Afrodeutscher an der Universität Halle studierte und in Halle und Jena forschte und lehrte.
Stadtrundgang: Berlin Postkolonial bietet regelmäßige Rundgänge durch das Afrikanische Viertel an: www.berlin-postkolonial.de. Die Berliner Spurensuche veranstaltet Touren durch das „Koloniale Neukölln“ oder den „Kolonialen Wedding“: www.berliner-spurensuche.de
Ausstellung: Noch bis Oktober läuft die Ausstellung „Kolonialgeschichte in Tempelhof und Schöneberg“ mit umfangreichem Begleitprogramm im Museum Schöneberg, Hauptstraße 40/42. Sie ist Samstag bis Donnerstag von 14 bis 18 Uhr, Freitag von 9 bis 14 Uhr geöffnet, der Eintritt ist frei.
Broschüre: Eine Übersicht bietet das 2016 erschienene Dossier „Stadt neu lesen“, herausgegeben vom Berliner Entwicklungspolitischen Ratschlag.
Insgesamt zehn Straßen im Stadtgebiet sollten nach Forderungen von Berlin Postkolonial umbenannt werden, weil sie Kolonialverbrecher ehren – drei davon im „Afrikanischen Viertel“ in Wedding, weitere in Steglitz-Zehlendorf, Neukölln und Mitte (siehe unten).
Dass diese Straßen allesamt im Westteil der Stadt liegen, ist indes kein Zufall. Denn die DDR-Regierung ordnete bereits 1950 an, Straßen mit militaristischen oder faschistischen Namen umzubenennen. Erfurt und Leipzig änderten die Namen der dortigen Wissmannstraßen noch im selben Jahr, in Wissmanns Geburtsstadt Frankfurt (Oder) gibt es die Straße bereits seit 1953 nicht mehr.
Auch der Ostteil hatte einst ein „Afrikanisches Viertel“: In Karlshorst wurden Straßen zwischen der Köpenicker Allee und dem heutigen Römerweg um 1905 nach Orten, Personen und Ereignissen in Südwestafrika benannt. Quer durch das Viertel führte etwa die Frankestraße, benannt nach Victor Franke, der als Kommandeur und Truppenbefehlshaber im heutigen Namibia maßgeblich am Völkermord an den Herero und Nama beteiligt war. In Namibia war er als gewalttätig und grausam gefürchtet, die Nazis verehrten ihn. Heute wäre er als Namensgeber für eine Straße genauso strittig wie Peters oder Wissmann.
1976 wurden aber alle diese Straßen in Karlshorst gemeinsam umbenannt und die afrikanischen Bezüge getilgt. Aus der Frankestraße wurde die Rudolf-Grosse-Straße, die an einen antifaschistischen Widerstandskämpfer erinnert. „Anfang der neunziger Jahre gab es Bestrebungen, den Straßen dort die ‚afrikanischen‘ Namen zurückzugeben. Dass das doch nicht umgesetzt wurde, ist auch einzelnen Aktivisten zu verdanken, die sich entschieden dagegengestellt haben“, erklärt der Historiker Ulrich van der Heyden.
In Karlshorst verweist heute nichts mehr auf die deutsche Kolonialgeschichte. Das wollen die Initiativen, die sich aktuell für Straßenumbennungen einsetzen, in Zukunft vermeiden. „Uns wird oft vorgeworfen, dass wir die Geschichte auslöschen wollen. Aber ganz im Gegenteil: Wir sind gegen Umbenennungen, bei denen die Bezüge zur Kolonialzeit verschwinden“, sagt Mboro.
Die Namensvorschläge von Berlin Postkolonial sollen auf den Widerstandskampf gegen die Kolonialmächte aufmerksam machen und an Menschen erinnern, die sich gegen rassistische und koloniale Strukturen behauptet haben. Eine Maji-Maji-Allee könnte an den Widerstand gegen die Deutschen erinnern, auch Nangoye, die von Peters erhängt wurde, wäre eine geeignete Namensgeberin. „Ich finde es erschreckend, dass es immer noch so viele Denkmäler und Straßen gibt, die Kolonialverbrecher ehren, aber unser Freiheitskampf nirgendwo erwähnt wird“, sagt er.
Auf die koloniale Geschichte Berlins verweisen aber nicht nur Straßennamen. Auch in wissenschaftlichen Institutionen wirkt sie noch nach. So befinden sich in anthropologischen Sammlungen der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, der Charité oder des Ethnographischen Museums noch heute weit über 1.000 Schädel und Knochen aus den ehemaligen deutschen Kolonien, vielfach von Widerstandskämpfer*innen, die für rassistische Forschungen nach Berlin gebracht worden waren. Ihre Herkunft ist weitgehend unerforscht.
Mboro erzählt bei seinen Rundgängen auch, warum sich seine Großmutter gefreut hat, als er nach Deutschland ging: „Sie hat mich beauftragt, den Schädel von Mangi Meli nach Hause zu bringen, der gegen die Deutschen gekämpft hat. Aber bis heute wissen wir nicht, in welcher Sammlung er liegt.“
Mnyaka Sururu Mboro
Der deutsche Kolonialismus war nicht nur von Politik und Wissenschaft gewollt. Er war getragen von zivilgesellschaftlichen Vereinen und Gesellschaften, wie zum Beispiel dem Frauenbund der Deutschen Kolonialgesellschaft in Schöneberg. Kolonialismus zog sich durch Alltagswelt und Freizeitvergnügen: In Huxleys Neuer Welt, im Kolonialpanorama in Mitte und im Treptower Park fanden Völkerschauen statt. Kolonialwarenläden waren im gesamten Stadtgebiet präsent.
In den Sarotti-Höfen am Mehringdamm produzierte die Firma ab 1883 Schokolade, im Innenhof wirbt sie noch heute mit einer riesengroß an die Wand gemalten Sarotti-Figur. Diese heißt zwar aus werbestrategischen Gründen seit 2004 „Magier der Sinne“, unterscheidet sich aber kaum vom „Sarotti-Mohr“, der das Klischee des dienenden Schwarzen fütterte.
Diese eher versteckten Spuren lassen sich oft nur mit dem entsprechenden Wissen finden. Bei den Straßennamen, die im Stadtbild für alle präsent sind, könnte in vielen Fällen eine erläuternde Zusatztafel am Straßenschild erklären, wie es zu der Benennung kam – und so ein Bewusstsein für die Berliner Kolonialgeschichte schaffen.
Solche Zusatztafeln kommen allerdings nur unregelmäßig im Straßenbild vor. Sie weisen mal auf einen Baustadtrat, mal auf einen Dichter und Freiheitskämpfer hin. Bei Straßen, deren Benennungsgeschichte komplizierter ist, gibt es diese Schilder selten.
Kein Wunder: In ein bis zwei Zeilen lassen sich Beruf und Lebensdaten einer Person aufschreiben. Für die Erklärung, warum Deutschland in China eine Kolonie hatte oder dass die Straße an einen aus heutiger Sicht fragwürdigen Militär erinnert, bräuchte es mehr Platz.
Im Afrikanischen Viertel gibt es seit 2012 eine Informationstafel, die die Geschichte der Straßennamen erklärt. Dass sie dort steht, ist den Umbenennungsinitiativen zu verdanken. Sie fordern für die im kolonialen Kontext benannten Straßen außerdem Texte direkt am Straßenschild, die – insbesondere bei den geografischen Bezeichnungen – darauf hinweisen, wie und warum es zu dem Namen kam.
Orte von Schlachten
Denn auch geografische Namen haben oft einen kolonialen oder militärischen Hintergrund. Die Kiautschoustraße und die Samoastraße verweisen auf ehemalige deutsche Kolonien in China und im Südpazifik. Der Name des Pekinger Platesz spielt auf die militärische Besatzung Pekings unter anderem von deutschen Truppen an, die in China um 1900 Widerstand gegen die Kolonialmächte niederschlugen.
Und die Katzbachstraße in Kreuzberg – um nur eines von vielen Beispielen herauszugreifen – heißt zwar nach einem Nebenfluss der Oder. Sie trägt diesen Namen aber nur, weil es dort 1813 eine Schlacht gab, in der die Preußen die Franzosen besiegten. Hier erklärende Informationen anzubringen, wäre Sache der Bezirke.
In deren Verantwortung läge es auch, auf militaristische Straßennamen hinzuweisen, wie zum Beispiel in Charlottenburg-Wilmersdorf. Dort wurden nur wenige Tage nach dem Tod Kaiser Wilhelms I. ihm zu Ehren Straßen umbenannt. Rund um die Badensche Straße sollten sie an Orte erinnern, in denen der Kaiser 1849 den Widerstand der 1848er Revolutionäre niedergeschlagen hatte: neben Baden auch Bruchsal, Waghäusel und Durlach. Darauf verwies eine Tafel im Volkspark Wilmersdorf.
„Seine Schlachten gegen die Revolutionäre werden heute anders bewertet. Jetzt stehen diese Straßennamen für die Niederlage der Demokraten“, hieß es dort. Der Text ist inzwischen einem Werbeplakat gewichen, lässt sich aber immerhin auf der Webseite des Bezirks nachlesen.
Nicht nur Orte von Schlachten, auch Militärs waren vielfach Namensgeber für Straßennamen, zum Beispiel im Fliegerviertel in Tempelhof. Mit einer großen Inszenierung zum „Tag der Luftwaffe“ im April 1936 hatten die Nazis 16 Straßen rund um die Paradestraße umbenannt, um an Jagdflieger aus dem Ersten Weltkrieg zu erinnern. Als 1946 alle in der Nazizeit benannten Straßen neue Namen bekommen sollten, war geplant, die Straßen dort nach pazifistische Schriftstellerinnen und Schriftstellern zu benennen: die Manfred-von-Richthofen-Straße beispielsweise nach Erich Mühsam, den Werner-Voß-Damm nach Bertha von Suttner.
Aus dem „Fliegerviertel“ hätte eine „Pazifistenecke“ werden können, sagt Jürgen Karwelat von der Berliner Geschichtswerkstatt. Doch dazu kam es nicht. Spätere Initiativen verliefen ergebnislos, zuletzt fand ein Antrag des Kinder- und Jugendparlaments von 2015 in der BVV keine Mehrheit. „Dass die Straßen im ganzen Viertel umbenannt werden, wird wohl nicht mehr passieren“, meint Karwelat. „Aber den Werner-Voß-Damm, den könnte man sich noch mal vornehmen.“
Voß, gestorben 1917, hatte sein Flugzeug mit einem Hakenkreuz verziert, auf ihn waren die Nazis besonders stolz. „Das ist niemand, an den wir heute noch mit einem Straßennamen erinnern sollten “, sagt Karwelat. „Mit einer neuen Generation von AnwohnerInnen bildet sich vielleicht eine neue Initiative dafür.“
Doch Umbenennungsinitiativen bekommen oft mehr Gegenwind als Unterstützung. Bei ihren Rundgängen durch das Afrikanische Viertel würden die Mitglieder von Berlin Postkolonial inzwischen regelmäßig beschimpft, erzählt Mboro. Insbesondere nachdem es im Frühjahr eine teils heftig geführte Debatte über die neuen Namensvorschläge für Petersallee, Nachtigalplatz und Lüderitzstraße gab. Einige Medien hatten die Arbeit der Jury scharf angegriffen und verunglimpft.
Auf der anderen Seite kommen oft mehr Teilnehmer*innen zu den Rundgängen als erwartet, junge Leute sind dabei, für die die Auseinandersetzung mit kolonialer Geschichte zum Selbstverständnis gehört.
Viele ihrer Gegner wüssten einfach zu wenig über Deutschlands koloniale Vergangenheit, meint Mboro. „Wir haben mal zusammen mit einem Seniorentreff aus dem Stadtteil eine Infoveranstaltung und einen Stadtrundgang gemacht“, erzählt Mboro. „Viele haben mir danach gesagt, dass dieser Teil der deutschen Geschichte neu für sie war, sie hatten mehr Verständnis für unser Anliegen und waren sogar für neue Straßennamen.“
Am May-Ayim-Ufer habe das gut geklappt: Es hieß bis 2010 nach Otto Friedrich von der Groeben, der am Sklavenhandel Brandenburg-Preußens mitwirkte, und trägt nun den Namen der Dichterin und afrodeutschen Aktivistin.
Er sehe dort oft Passant*innen, die stehenblieben, um die Tafel zu lesen, sagt Mboro. Und er findet: „Es ist unsere gemeinsame Geschichte, und über die sollten wir doch reden können.“
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