Veränderte Kräfteverhältnisse in Syrien: Putins Krieg gegen Aleppos Hoffnung
Das syrische Regime hat mit Russlands Kriegseintritt neuen Mut zur Offensive geschöpft. Für die Menschen in Aleppo ist das eine Katastrophe.
Dort war der kleine Mann mit der dunklen Hornbrille Tausenden Dorfbewohnern begegnet, die vor russischen Luftangriffen flohen. Mit ihren insgesamt 600 Angestellten und einem Netzwerk aus Medizinern, humanitären Helfern und Aktivisten im Land erhält die UOSSM aus vielen Orten direkte Informationen. Sie gilt als größte in Syrien arbeitende NGO.
„Sie laufen davon, ohne zu wissen wohin“, erzählt al-Zoebi, der inzwischen vom türkischen Gaziantep aus versucht, Hilfe zu organisieren. Der Himmel sei voller Kampfjets und Helikopter gewesen. Die Zahl der Vertriebenen schätzt al-Zoebi auf 70.000. Viele von ihnen seien auf offenem Feld unterwegs, hätten nichts zu essen und würden unter freiem Himmel schlafen.
Mit den Angriffen südlich von Aleppo treibt das syrische Regime einen Feldzug voran, dessen Ziel die komplette Abriegelung des oppositionellen Teils der Stadt ist.
Die einstige Wirtschaftsmetropole ist seit 2012 in einen vom Regime kontrollierten Westen und einen von verschiedenen Brigaden der Freien Syrischen Armee (FSA) gehaltenen Osten geteilt, der täglich bombardiert wird.
Nachschubwege in Gefahr
Dort sitzen ausschließlich syrische Kämpfer, die in Kontakt mit der politischen Führung der Nationalen Koalition stehen und nicht mit der Al-Nusra-Front, dem Al-Qaida-Ableger, zusammenarbeiten. Noch immer leben 300.000 Menschen im Osten der Stadt, sie werden über das nördliche Umland aus der 50 Kilometer entfernten Türkei versorgt. Diese Nachschubwege sind nun in Gefahr.
Seit dem Kriegseintritt Russlands Anfang Oktober traut sich das zuvor schwer bedrängte syrische Regime wieder in die Offensive. Zunächst griffen russische Kampfjets Gebiete in den Provinzen Homs, Hama, Idlib und Lattakia an, die von moderaten und zum Teil von den USA unterstützten Rebellengruppen kontrolliert werden.
Am Donnerstag, den 8. Oktober, begann Assads Vormarsch auf Aleppo, der am Boden massiv von ausländischen Truppen unterstützt wird – von iranischen Soldaten, libanesischen Hisbollah-Kämpfern, afghanischen sowie irakischen Söldnern und womöglich auch russischen „Freiwilligen“.
Im Norden der Stadt feuerte Russland Raketen auf vier von den Rebellen kontrollierte Orte ab und vermied es dabei, die nahe gelegenen Stellungen des „Islamischen Staats“ (IS) zu treffen. Sowohl das Regime als auch die Dschihadisten konnten daraufhin auf Aleppo vorrücken.
Bei einem Luftangriff im Nordwesten Syriens haben russische Kampfjets nach Darstellung von Menschenrechtlern ein Krankenhaus getroffen. Dabei seien 13 Menschen getötet worden, unter ihnen zwei Krankenhausmitarbeiter, teilte die in London ansässige Syrische Beobachtungsstelle für Menschenrechte am Mittwoch mit. „Der Angriff ereignete sich am Dienstagabend im Ort Samin“, hieß es. Die Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.
Die Klinik wird von der syrisch-amerikanischen Gesundheitsorganisation SAMS geführt. Die Organisation bestätigte den Angriff auf ihrer Facebook-Seite, machte aber keine Angaben zur Herkunft der Kampfflugzeuge. Moskau wies die Berichte am Donnerstag mit Nachdruck zurück. (dpa)
Bewohner Aleppos fordern Einheit der Rebellenführer
Russland stelle dem IS eine Luftwaffe, urteilten internationale Beobachter, und übernehme damit Assads Strategie. Dessen Kampfjets bombardierten bereits mehrfach Orte, die gleichzeitig vom IS am Boden angegriffen wurden, etwa die ebenfalls nördlich von Aleppo liegenden strategisch wichtigen Städte Azaz und Marea.
Die verschiedenen FSA-Einheiten saßen in der Falle. Eingeschlossen zwischen einer von Russland unterstützten Regimeoffensive und den Angriffen des IS blieb ihnen nur der Rückzug. Mangelnde Einheit und zu wenig Unterstützung von den Amerikanern machte ein Kommandeur der Miliz Dschabha al-Schamia dafür verantwortlich. Seine FSA-Brigade hatte die Frontlinie bis zuletzt gehalten.
Die Bewohner Aleppos protestierten wütend. Sie kritisierten Unfähigkeit und Zerstrittenheit der Rebellenführer und forderten angesichts der massiven Bedrohung eine bessere Zusammenarbeit. In einem Videostatement riefen Aktivisten die verantwortlichen Befehlshaber zum Rücktritt auf und forderten die Bildung eines „kompetenten“ Zentralkommandos zur Koordinierung der verschiedenen Brigaden. Daraufhin trat tatsächlich einer der Rebellenführer zurück.
Waffennachschub für die Rebellen
Erst im April 2015 hatten sich 31 FSA-Einheiten zum Kommandozentrum Fatah Halab (Aleppos Sieg) zusammengeschlossen – mit mäßigem Erfolg, wie die aktuellen Verluste zeigen. Inzwischen haben die Rebellen sich angeblich reorganisiert und Einsatzgebiete neu zugeordnet.
Außerdem haben sie Nachschub erhalten – Munition, Panzerabwehrraketen, Mörsergranaten und Raketenwerfer, wenn auch nicht genug, sagen mehrere Kommandeure.
Ob die Lieferungen von den USA, von Saudi-Arabien, der Türkei oder Katar stammten, ist unklar. Aber angesichts der massiven Einmischung Russlands erscheint es naheliegend, dass sowohl Washington als auch die regionalen Unterstützer der Gegner Assads ihre Verbündeten vor Ort besser ausstatten.
Vom Süden aus will das Regime nun den Belagerungsring um Aleppo schließen, indem es die Gebiete, die im Norden und Westen von den Rebellen kontrolliert werden, erobert. Damit sendet Assad zugleich eine Botschaft an die Welt: dass er mit russischer Luftunterstützung sehr wohl Territorium zurückgewinnen kann.
Strategie des Aushungerns
Im Ostteil Aleppos lösen die Nachrichten von den vorrückenden Regimetruppen Angst aus. An Raketenangriffe und Fassbomben des Regimes haben sich die Menschen inzwischen gewöhnt – so wie an den Tod als ihren ständigen Begleiter. Aber die militärische Schlagkraft einer Supermacht wie Russland in Verbindung mit iranisch geführten und international aufgestockten Bodentruppen hat eine neue Qualität.
„Die Situation ist sehr gefährlich“, sagt Dr. Abdelaziz. Er ist einer von drei Dutzend Ärzten, die im Osten Aleppos unterirdisch arbeiten, weil alle Krankenhäuser zerstört sind. „Der IS steht ein Kilometer vor der Stadt und Russland greift nur FSA-Brigaden an“, schimpft er. Assad und der IS ließen sich in Ruhe, obwohl sie sich im Umland von Aleppo direkt gegenüberstünden, fügt der Chirurg hinzu.
Dr. Abdelaziz, der zusammen mit der UOSSM die Versorgung der Untergrundkliniken in Aleppo organisiert, mag sich nicht vorstellen, was eine Abriegelung für Folgen hätte. „Wir beziehen unseren gesamten medizinischen Nachschub aus der Türkei“, sagt er. Die von Rebellen kontrollierte Verbindung zwischen Aleppo und der Grenze sei die Lebensader der Stadt. Würde sie gekappt, wären Hunderttausende Zivilisten dem Regime ausgeliefert.
Das hat mit der Strategie des gezielten Aushungerns ganzer Stadtteile und Dörfer schon andernorts Rebellen in die Knie gezwungen. Landesweit sind bislang mehr als 600 Zivilisten an Unterernährung und fehlender medizinischer Versorgung gestorben.
Vom Ende der Hoffnung
Für die Menschen im Großraum Aleppo ist die Regimeoffensive schon jetzt eine Katastrophe. Drei Krankenhäuser habe die russische Luftwaffe bis jetzt angegriffen, sagt UOSSM-Generalsekretär al-Zoebi. Eines davon hat er selbst besucht.
„Die Menschen fliehen, weil sie Todesangst haben – vor den russischen Luftschlägen und Assads Truppen.“ Der UOSSM-Generalsekretär ist sicher: Wenn die Welt nichts unternimmt, um den Krieg zu stoppen, oder zumindest Zivilisten und Krankenhäuser zu schützen, werden sich in den kommenden Monaten Hunderttausende Syrer auf den Weg nach Europa machen. „Durch die Intervention Russlands haben die Syrer endgültig die Hoffnung verloren.“
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