Urteil zum Tarifeinheitsgesetz: Kompliziert und mit Streitpotential
Das Verfassungsgericht schützt mit seinem Urteil wichtige Rechte kleiner Gewerkschaften. Womöglich gehen jetzt aber erst recht die Konflikte los.
Tarifeinheit bedeutet, dass pro Betrieb nur ein Tarifvertrag gilt. Das Prinzip soll verhindern, dass ständig eine andere Gewerkschaft für „ihren“ Tarifvertrag streikt und die Unternehmen nicht zur Ruhe kommen.
Eigentlich ist die Tarifeinheit nichts Neues. In Deutschland galt diese seit einem Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) aus dem Jahr 1957. Die Tarifeinheit war aber immer umstritten, weil sie in die grundgesetzlich geschützten Rechte von Gewerkschaften eingreift. 2010 erklärte das BAG deshalb, dass nur der Gesetzgeber die Tarifeinheit einführen könne. DGB und Arbeitgeber machten Druck auf den Bundestag und forderten ein entsprechendes Gesetz.
Die Große Koalition erfüllte fünf Jahre später diesen Wunsch und beschloss das Tarifeinheitsgesetz. Im Konfliktfall soll nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten, die im Betrieb die meisten Mitglieder hat. Der Tarifvertrag der Minderheitsgewerkschaft würde „verdrängt“, also unter den Tisch fallen. Als Ausgleich hat die kleinere Gewerkschaft das Recht, den Mehrheitstarifvertrag für ihre Mitglieder „nachzuzeichnen“, also zu übernehmen. Das Gesetz, so Arbeitsministerin Andrea Nahles (SPD), sei ein „Anreiz zur Kooperation“ der Gewerkschaften.
Spartengewerkschaften sahen Existenz bedroht
Die kleinen Gewerkschaften sahen ihre Existenz bedroht. Wie sollen sie noch Mitglieder werben, wenn ihre ausgehandelten Tarifverträge am Ende nicht gelten? Würden nicht Arbeitsgerichte jeden ihrer Streiks verbieten, weil es unverhältnismäßig wäre, für einen wirkungslosen Tarifvertrag zu streiken?
Deshalb klagten die Spartengewerkschaften in Karlsruhe: die Ärztegewerkschaft Marburger Bund, die Lokführergewerkschaft GdL, die Unabhängige Flugbegleiter-Organisation (UFO) und die Pilotenvereinigung Cockpit. Als einzige DGB-Gewerkschaft hatte auch Verdi Verfassungsbeschwerde erhoben. Sie muss in manchen Kliniken die Konkurrenz des Marburger Bunds fürchten.
Das Bundesverfassungsgericht nutzte die Klage für ein Grundsatzurteil. Das Recht, Gewerkschaften zu gründen und Tarifverträge zu schließen – die Koalitionsfreiheit –, sei ein „Freiheitsrecht“, so die Richter. Es sei deshalb kein legitimes Ziel für den Gesetzgeber, bestimmte Typen von Gewerkschaften klein zu halten. Der Bundestag dürfe aber die Rahmenbedingungen regeln, damit die Tarifautonomie funktioniert und faire, angemessene Tarifverträge ermöglicht. Dazu darf der Gesetzgeber verhindern, dass „Schlüsselpositionen“ in Betrieben ausgenutzt werden, um für die eigene Gruppe Ergebnisse zulasten der übrigen Beschäftigten zu erzielen.
Die „Verdrängung“ von Tarifverträgen sei jedoch ein schwerer Eingriff in die Tarifautonomie, so die Richter. Er sei nur zu rechtfertigen, wenn das Gesetz einschränkend ausgelegt wird. So sollen die Arbeitsgerichte stets prüfen, ob nicht doch beide Tarifverträge nebeneinander anwendbar sein können. Jedenfalls dürften „längerfristig bedeutsame“ Errungenschaften eines Minderheitstarifvertrags nicht verdrängt werden. Wenn etwa eine Arbeitsplatzgarantie oder eine Betriebsrente vereinbart wurde, dann müsse dies erhalten bleiben. Dies müssen entweder die Arbeitsgerichte oder der Gesetzgeber sicherstellen.
Punktuell verfassungswidrig sei das Tarifeinheitsgesetz, weil es nicht sicherstellt, dass die Interessen kleiner Berufsgruppen, deren Tarifvertrag verdrängt wird, am Ende überhaupt berücksichtigt werden. Hier muss der Bundestag bis Ende 2018 nachbessern. Das Tarifeinheitsgesetz bleibt bis dahin in Kraft – unter der Bedingung, dass Mehrheitsgewerkschaften nun „ernsthaft und wirksam“ die Interessen der Minderheitsgewerkschaften berücksichtigen.
Streikrecht bleibt
Besonders wichtig für die kleinen Gewerkschaften ist aber, dass das Bundesverfassungsgericht ihr Streikrecht garantiert hat. Auch wenn sie eindeutig weniger Mitglieder haben, dürfen sie für einen eigenen Tarifvertrag streiken, denn nur eine Gewerkschaft, die einen eigenen (verdrängten) Tarifvertrag hat, darf anschließend den Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft übernehmen.
Die beiden Richter Susanne Baer und Andreas Pauslus kritisierten das Urteil scharf und gaben ein Sondervotum ab. Es sei schon fraglich, ob es überhaupt ein Problem mit kleinen Gewerkschaften gebe. Jedenfalls machten diese nur von ihren Grundrechten Gebrauch und hätten auch gute Gründe gehabt, sich von den DGB-Gewerkschaften abzuspalten. Das Verdrängen ihrer Tarifverträge sei unverhältnismäßig, das Tarifeinheitsgesetz deshalb verfassungswidrig.
Passenderweise wurden Baer und Paulus einst von den kleinen Parteien (Grüne und FDP) als Verfassungsrichter vorgeschlagen, während die sechs Richter um den Senatsvorsitzenden Ferdinand Kirchhof, die einst von den großen Parteien (Union und SPD) nominiert wurden, das Gesetz durch richterliche Nachbesserungen retteten.
Wie geht es nun weiter? Möglicherweise beginnen jetzt erst die Konflikte, die das Gesetz eigentlich vermeiden will. Auch kleinere Gewerkschaften könnten nun versucht sein, durch populäre Forderungen, aggressive Streiks und die Vertretung zusätzlicher Berufsgruppen selbst zur Mehrheit im Betrieb zu werden.
Um solche Konflikte zu vermeiden, könnten die Tarifparteien aber auch die Verdrängung von Tarifverträgen per Vertrag ausschließen. So ist es bei der Bahn zumindest bis 2020 geregelt. Dass dies zulässig ist, hat Karlsruhe jetzt ausdrücklich festgestellt.
Der Bundestag könnte nach der Wahl aber auch zum Schluss kommen, dass das Tarifeinheitsgesetz wenig bringt und nur Ärger macht – und es einfach wieder abschaffen. (Az.: 1 BvR 1571/15)
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