Urlaub auf Staatskosten: Willkommen im Nörgelland
Dürfen Eltern während der Elternzeit gemeinsam mit ihrem Baby verreisen? Klar! Wer das unmoralisch findet, ist kleingeistig und verkennt die Realität.
Deutschland hat eine neue Neiddebatte. Vor zehn Jahren wurde von der Bundesregierung das Elterngeld eingeführt. Eine staatliche Leistung, die Eltern vor allem im ersten Jahr nach der Geburt eines Kindes, finanziell unterstützen soll. Und ja, es gibt berechtigte Kritik daran – aber dazu später. Wichtig ist erst mal: In einem Land, in dem zu wenig Kinder geboren werden, ist das eine gute Sache. Aber wir leben eben in einem Nörgelland.
Viele junge Familien nutzten das Geld, um wochenlang gemeinsam zu reisen, schreibt etwa Kerstin Lottritz auf sueddeutsche.de, und das sei verwerflich. Die Argumentation geht in etwa so: Die meisten Väter nehmen nur zwei Monate Elternzeit, die Mindestbezugsdauer, um Anspruch auf vierzehn bezahlte Elternmonate zu haben. Die Erziehungsarbeit bleibt also trotz Elterngelds hauptsächlich bei der Frau. So weit, so nachvollziehbar.
Nun aber die Nörgelei: „Statt in ihrer kurzen Elternzeit zu Hause zu bleiben und ihre Partnerin beim Wiedereinstieg ins Berufsleben zu unterstützen, verbringen viele Väter die „Papa-Monate“ lieber gleichzeitig mit der Mutter – um die gemeinsame Elternzeit für eine ausgedehnte Reise zu nutzen“, schreibt Lottritz.
Urlaub auf Staatskosten. Wie unverschämt! Denn wer das mache, nutzte das Sozialsystem aus und kommt der Verantwortung nicht nach, das Geld seinem Zweck entsprechend einzusetzen. Auf welt.de schreiben Katrin Spoerr und Sabine Menkens ein Pro und Contra zur Frage: Dürfen Eltern Urlaub auf Staatskosten machen? Diese Frage allein. Diese Moral dahinter. Schlimm.
Endlich ist der Wolf wieder heimisch in Deutschland! Das freut nicht jeden. Für die taz.am wochenende vom 25./26. März hat unser Autor mit Biobauern gesprochen, die Abschüsse fordern, und sich ins Revier des Raubtiers gewagt. Außerdem: Hass – warum werden die Rohingya in Birma so erbittert verfolgt? Und: Ein Gespräch mit der Autorin Olga Grjasnowa über Heimat, Religion und Privilegien. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Man kommt nicht umhin, sich Menschen mit erhobenen Zeigefinger und heruntergezogenen Mundwinkeln vorzustellen, die vor sich hin nörgeln: Also wer sich schon für Kinder entscheidet und dafür Elterngeld kassiert, der soll im Gegenzug zumindest auch zu Hause leiden, allein! Ein gemeinsamer Urlaub, in dem Eltern sich auch um ihre Partnerschaft kümmern? Skandal!
Diese Neiddebatte ist so schräg, wo soll man bloß anfangen?
Beginnen wir mit der Relevanz: Zahlen darüber, wie viele Paare tatsächlich in der Elternzeit gemeinsam verreisen, gibt es nicht. Fest steht: Etwa jeder dritte Vater bezieht Elterngeld, was bedeutet, dass nur etwas mehr als ein Drittel der Elterngeldbezieher das überhaupt hätten machen können. Wie kommt die SZ-Autorin dazu, zu schreiben, „viele“ Eltern verreisen gemeinsam in der Elternzeit.
Denn „viel“ ist so ein wunderbar vages Wort, mit dem man im Journalismus jede Nichtigkeit zum Gesellschaftsthema erheben kann. Zudem beträgt das Elterngeld mindestens 300 Euro und höchstens 1.800 Euro monatlich. Die Vorstellung vom Strandurlaub an der Côte d’Azur, von Eltern-Kind-Yoga auf Bali oder Wandern in Nepal ist damit wohl für die wenigsten finanzierbar.
Privatsache, Punkt
Wer „Urlaub auf Staatskosten“ mit aufgeblasener Brust als „Das gehört sich aber nicht“ abstempelt, entspringt der gleichen Kleingeistigkeit wie all jene, die fordern, Flüchtlinge sollten nur Gutscheine erhalten, um sich etwas zu essen kaufen zu können. Oder jene, die diskutieren, ob sich Hartz-IV-Empfänger vom staatlichen Geld Zigaretten und Prosecco leisten dürfen. Denn was heißt das im Umkehrschluss? Ein Urlaubsverbot in der Elternzeit?
Dieser Wunsch nach staatlicher Autorität hat in einer freien Gesellschaft nichts zu suchen. Genauso wenig, wie der Staat es kontrollieren kann, ob das monatliche Kindergeld nun in neue Kindersöckchen investiert wird (die verliert man doch ständig!), kann er darüber entscheiden, was mit dem Elterngeld passiert. Das ist Privatsache. Punkt.
Aber nun zum Reisen an sich.
Man könnte Forschungen zitieren, die belegen, dass gemeinsames Reisen sich positiv auf die Gehirnentwicklung von Kindern auswirkt. Aber es reicht auch der gesunde Menschenverstand. Beim Reisen lässt sich zudem der Härtefall proben: Wer ohne Schnuller und ohne die Möglichkeit, Dinge ständig zu desinfizieren, mit einem Kind durch Indien reist, lernt zu improvisieren, und kehrt relaxt zurück. Das kann dem Kind nur zu Gute kommen. Keine Wickelkommode? Egal, Boden und Handtücher funktionieren auch. Kein Babybett? Egal, ist nämlich sehr kuschelig mit Baby im Bett. Babys brauchen im ersten Jahr gar nicht viel, das kann man beim Reisen wunderbar lernen.
Man kann Fernreisen aus anderen Gründen doof finden, wegen der Umwelt etwa. Und Reisen ist natürlich ein Privileg, Elternzeit hin oder her. Nur die wenigsten Menschen auf dieser Welt können es sich überhaupt leisten, andere Teile der Erde zu erkunden. Aber: Es soll ja Menschen in Deutschland geben, deren Eltern nicht hier geboren sind. Und die haben auch häufig Familie in anderen Teilen der Welt.
Bautzen oder Mumbai?
In einer Einwanderungsgesellschaft kann gemeinsames Reisen in der Elternzeit deshalb auch schlicht bedeuten, das neugeborene Kind erstmals seinen Großeltern, Cousins, Cousinen, Onkeln und Tanten vorzustellen. Ist es nun okay, mit dem Elterngeld zu den Großeltern nach Bautzen zu fahren, aber nicht nach Lagos, Istanbul oder Mumbai? Reisen ist Ausdruck einer globalisierten Welt.
Nun, um endlich mal auf die anfangs erwähnte berechtigte Kritik zurückzukommen. Man kann sich durchaus aufregen über das Elterngeld: Am meisten profitieren davon wohlhabende Familien. Wenig profitieren dagegen Selbstständige und Menschen, die Schichtarbeit leisten, Arbeitslose und Geringverdiener.
Und natürlich spiegelt sich beim Elterngeld die Ungleichheit der Geschlechter wieder. Deshalb, liebes Netz, diskutiert besser, wie man das Elterngeld gerechter gestalten kann. Mit Nörgelei hat das nämlich nichts zu tun. Sondern mit Politik. Wenn man schon mit Moral kommt, dann sollte man es für alle besser und gerechter, aber nicht für alle schlechter machen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“