Urbanistikforscherin über Innenstädte: „Wir brauchen mehr Grünflächen“
Klimawandel und Digitalisierung verändern Innenstädte. Urbanistikforscherin Sandra Wagner-Endres über neue Nutzungen und soziale Räume.
wochentaz: Frau Wagner-Endres, Galeria Karstadt Kaufhof ist mal wieder in der Krise. Ist die Zeit der Warenhäuser und der konsumzentrierten Innenstädte bald endgültig vorbei?
Sandra Wagner-Endres: Ich glaube nicht, dass die Zeit von größeren Kaufhäusern komplett vorbei ist. Auch wenn wir uns die Frage stellen müssen, wie viel Konsum wir uns überhaupt noch leisten können. Und: Können Warenhäuser dann noch so aussehen wie heute? Oder braucht es nicht eher eine Neukonfiguration mit anderen Nutzungen, mehr Nutzungsmischung und -vielfalt?
ist Projektleiterin im Forschungsbereich „Infrastruktur, Wirtschaft und Finanzen“ am Deutschen Institut für Urbanistik (difu). Dort forscht sie unter anderem zum Thema nachhaltige Stadtentwicklung.
Was für Möglichkeiten der Neukonfiguration gibt es denn, wenn Häuser schließen?
Im Detail kann das ganz unterschiedlich aussehen. In Lübeck zum Beispiel wird aktuell ein ehemaliges Kaufhaus zu einer Schule umgebaut. Man hat dabei sogar festgestellt, dass der Umbau günstiger ist, als ein Neubau wäre. Eine Schule ist ein gutes Beispiel für die Transformation der innenstädtischen Räume.
Es geht darum, dass diese öffentlichen Räume lebendig bleiben. Dass also Menschen trotzdem Gründe haben, in die Innenstadt zu fahren und sich dort aufzuhalten, auch wenn es eines Tages deutlich weniger Konsum geben wird. Aber es gibt natürlich noch andere Nutzungsmöglichkeiten: Bildung über das Schulalter hinaus, Wohnen, gerade in den oberen Etagen von Gebäuden, Büros oder Freizeitnutzungen wie Veranstaltungsräume, Fitnessstudios und, ganz wichtig auch: Kultur.
Galeria Karstadt Kaufhof ist kein Einzelfall. Auf die Entwicklung von Innenstädten wirken immer mehr Kräfte: Die Digitalisierung und aktuell die Inflation, die wie auch schon die Pandemie tendenziell zu einer Kaufzurückhaltung führt. Wie wirkt sich das alles aus?
Die Auswirkungen von Digitalisierung und Onlinehandel sehen wir schon seit einigen Jahren. Inhabergeführte Läden geben auf und diese Flächen werden von Ketten besetzt. Nun gibt es einen weiteren Schub durch Pandemie und Inflation: Auch Filialisten verkleinern ihre Flächen oder verlassen die Innenstädte. Das sind beides marktgetriebene Entwicklungen. Dazu kommt der Klimawandel. Der ist ein ganz zentrales Thema, weil er uns zwingt, nach vorne zu schauen und zu überlegen: Wie können wir es schaffen, dass Innenstädte auch in 20, 30 oder 40 Jahren trotz der Hitze noch eine hohe Aufenthaltsqualität haben und lebenswert sind? Dass sie so gestaltet sind, dass Menschen sich dort auch treffen wollen?
Wenn Sie also ein Bild malen, wie sieht die Innenstadt der Zukunft aus?
Als Allererstes brauchen wir eine an den Klimawandel angepasste Architektur. Das bedeutet einerseits eine Nutzung erneuerbarer Energien, die man dann auch im Stadtbild sieht, etwa mit Solarpanelen. Und andererseits, und das ist ganz wichtig: mehr Grünflächen in der Innenstadt, und zwar überall. Auf der Straßenebene, aber auch an den Fassaden und auf den Dächern. Das Grün sorgt nicht nur für eine bessere Aufenthaltsqualität, sondern wirkt auch der Überhitzung entgegen.
Die Innenstadt der Zukunft sieht also schon optisch deutlich grüner aus als heute.
Genau, und zusätzlich brauchen wir eine Mobilitätswende. Wir werden deutlich weniger motorisierten Verkehr in den Innenstädten haben, und damit meine ich auch die parkenden Autos. Das hat einen positiven Nebeneffekt: Es werden Flächen frei. Wir haben also mehr Spielraum für die Gestaltung. Den brauchen wir auch, denn die Flächennutzung soll ja vielfältiger werden. Es geht also um neue Qualitäten.
Was heißt das konkret?
Momentan haben wir eine starke Konsumorientierung. In Zukunft sollten wir zu mehr Gemeinwohlorientierung kommen. Wir müssen also fragen: Was tut der Gesellschaft gut? Zirkuläre Wirtschaft zum Beispiel. Es braucht also Orte, wo Menschen Geräte oder Gegenstände tauschen und reparieren können. Und die Innenstädte müssen sich viel stärker unterschiedlichen Gruppen von Nutzer:innen öffnen. Jugendliche zum Beispiel sind häufig nicht gern gesehen, weil sie als störend empfunden werden. Dabei brauchen auch sie öffentlichen Raum.
Wie bekommt man es denn hin, dass ganz unterschiedliche Menschen, egal welchen Alters und mit welchem gesellschaftlichen Hintergrund, einen Ort positiv wahrnehmen und sich gern dort aufhalten?
Das ist eine echte Herausforderung und eine Patentlösung gibt es dafür nicht. Aber ein Weg, der es zumindest wahrscheinlich macht, dass wir einen guten Raum für alle Menschen schaffen, ist Beteiligung. Wir müssen alle Akteur:innen der Innenstädte mitnehmen, egal ob sie dort wohnen oder arbeiten, dort einkaufen oder ihre Freizeit verbringen, ob sie Gebäude besitzen oder Flächen mieten. In diesem Prozess muss man mit den Menschen vor Ort schauen: Was wird an Räumen gebraucht? Einen Basketballplatz irgendwo hinbauen und denken, na dann werden die Jugendlichen schon kommen – so funktioniert das nicht.
An manchen Punkten widersprechen sich auch die Bedürfnisse. So wollen viele Menschen gute Beleuchtung, um sich sicher zu fühlen, aber aus Gründen des Umweltschutzes ist viel Licht ein Problem.
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Ja, Sicherheit ist in der gendergerechten Stadtentwicklung ein wichtiger Aspekt. Licht ist da nur ein Thema. Den besten Effekt auf das Sicherheitsgefühl haben andere Menschen. Und Menschen kriegen wir, indem wir Anlässe und einen grundsätzlich attraktiven Raum schaffen.
Wie ist es bei der Dichte: Braucht es eine dichte Stadt für kurze Wege? Oder weniger dicht für Frischluftschneisen und Kaltluftentstehungsgebiete?
Wir brauchen eine kluge Balance. Und wie die aussieht, lässt sich nicht allein in Metern festmachen. Ein Beispiel: Wenn alle Gebäude begrünte Fassaden haben, es viele Pflanzen und Grünflächen dazwischen und auf den Dächern gibt, dann lässt sich auch etwas dichter bauen, ohne dass es im Sommer gleich zur Überhitzung kommt.
Über welche Zeithorizonte sprechen wir bei dieser Transformation eigentlich?
Ich glaube nicht, dass dieser Prozess jemals abgeschlossen sein wird. Natürlich sind die aktuellen Entwicklungen von Digitalisierung bis Klimawandel ein Startpunkt. Aber wissen wir denn, wie zukünftige Generationen leben wollen? Wie sich die Gesellschaft entwickelt? Das Beste, was den Innenstädten passieren kann, ist ein permanenter Transformationsprozess. Und der Mut, auch mal neue, unkonventionelle Wege zu gehen.
Was könnte das sein?
Ein Beispiel aus New York, das sicher viele kennen, ist die High Lane. Statt den Teil einer alten Bahntrasse einfach abzureißen, hat man einen hochgelegenen Park darauf angelegt. In Deutschland hat die Stadt Siegen eine eindrückliche Transformation geschaffen: Dort gibt es die Siegplatte. Das war ursprünglich eine Parkfläche für Autos, die über den Fluss ragte. Die Stadt hat dort die Parkplätze gestrichen und den Uferbereich zur Sieg neu gestaltet. Und auf einmal bietet der Ort echte Aufenthaltsqualität.
Der Punkt ist: Das sind alles jahrzehntelange Prozesse. Städte, die heute als Vorreiter gelten, haben sich schon vor vielen Jahren auf den Weg gemacht. Wichtig ist, zu verstehen, dass die Innenstadtentwicklung eine dauerhafte Transformationsaufgabe ist, ohne Endpunkt.
Sie haben eingangs gesagt, wir müssen überlegen, wie viel Konsum wir uns in Zukunft noch leisten können. Wie viel denn?
Nun, wir leben gesamtgesellschaftlich gesehen deutlich über unsere Ressourcen. Das müssen wir ändern, und zwar sehr deutlich. Wenn wir anders konsumieren, dann brauchen wir andere Orte und Angebote. An die Stelle werden Kunst und Kultur treten, Bildungs- und Gesundheitsangebote oder anderes – es gibt auch radikalere Ideen. Insgesamt wird damit die Alltagstauglichkeit der Innenstadt deutlich zunehmen.
Was wäre denn eine radikalere Idee?
Zum Beispiel kann man darüber nachdenken, alle Flächen einer Innenstadt nicht nur zu begrünen, sondern auch öffentlich zugänglich zu machen – auch die Dächer. Damit ließe sich die Stadt praktisch auf eine zweite Ebene heben. Und: Momentan sind ja die allermeisten Räume für bestimmte Nutzungsarten definiert. Dabei wäre es gut, auch Raum zu haben, der frei ist dafür, wie die Gesellschaft ihn gestalten und nutzen will. Man sollte an einem Ort auch mal keiner Erwartungshaltung begegnen, sondern einfach nur sein dürfen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Verbotskultur auf Social Media
Jugendschutz ohne Jugend
Grünen-Abgeordneter über seinen Rückzug
„Jede Lockerheit ist verloren, und das ist ein Problem“