Unterwegs im Berliner Grunewald: Der Wald der Zukunft
Damit es den Bäumen nicht zu heiß wird, kommt es auf Artenvielfalt und die richtige Mischung an. Die aber muss im Wald erst gefunden werden.
D iese überraschende Nähe ist sein Reiz, aber vielleicht auch eine Gefahr für ihn selbst. Gerade noch in der S-Bahn an Baumärkten und Kränen vorbeigefahren, steigen wir aus, unterqueren eine Autobahn und stehen auch schon vor einem von Berlins größten Erholungszielen: dem Grunewald.
Der Parkplatz ist an diesem angenehm warmen Juninachmittag nur mittelgut besucht, allein sind wir trotzdem nicht. Spaziergänger, Jogger, Kinder, Hunde, sie alle möchten auch an diesem Tag unter der Woche ein wenig Freizeit im Wald verbringen.
Nicole Wellbrock entspannt gleichfalls gerne im Wald. Oft genug aber kommt sie auch hierher, um zu arbeiten. Ihr Job ist es, zu erforschen, wie es dem Wald geht. Ihr geht es um die Bäume und den Boden. Jedes Jahr erhebt die Waldforscherin vom Thünen-Institut in Eberswalde mit ihren Kolleg:innen den Waldzustandsbericht für ganz Deutschland.
Die Waldzustandserhebung: Jedes Jahr wird in der sogenannten Waldzustandserhebung erfasst, wie es dem Wald in Deutschland geht – bundesweit und für jedes Bundesland. Die Forscher:innen begucken sich dafür stichprobenartig die wichtigsten Baumarten und schätzen ihre Gesundheit ein. Aufschluss darüber geben die Krone, die Farbe der Blätter oder Nadeln, die Anzahl der Blüten, Insekten- oder Schädlingsbefall und der Zustand der Stämme. Die Daten aller Bundesländer gehen an das Thünen-Institut für Waldökosysteme in Eberswalde, wo sie verarbeitet und an die Bundesregierung und an das europäische Waldmonitoring überliefert werden. Geprüft werden die Bäume immer im Juli und August jeden Jahres, weil sie dann eigentlich in voller Pracht und Blüte dastehen sollten.
Die Waldinventur: Neben der Waldzustandserhebung gibt das Bundeslandwirtschaftsministerium alle 10 Jahre die noch gründlichere Waldinventur in Auftrag. Baumarten, Baumdurchmesser, Baumhöhe an ausgewählten Probebäumen und Totholzbestände sind einige der Kriterien, anhand derer untersucht wird, wie es dem Wald geht und wie er sich seit der letzten Inventur verändert hat. Aktuell läuft die Waldinventur seit April 2021, und die Ergebnisse sind im Dezember 2022 zu erwarten.
Heute schauen wir uns an, wie es um den Grunewald steht. Er grenzt direkt an eine Millionenstadt und wird von einer Autobahn durchkreuzt. Etwa 100 Millionen Mal wird der Grunewald im Jahr besucht. Seit Beginn der Pandemie vermutlich sogar noch häufiger, schätzt das Berliner Forstamt. Die letzten Jahre war es heiß und trocken wie nie. Zeit für einen Spaziergang durch einen von Berlins größten Forsten.
Nicole Wellbrock, Waldforscherin
Wir schlendern los. Nicole Wellbrock freut sich darüber, dass viele Menschen in den Wald kommen. „Der Grunewald ist ja ein Erholungswald“, sagt sie. Mit vielen attraktiven Zielen wie Seen, Gaststätten und Umweltbildungszentren ist er darauf ausgelegt, von vielen Berlinern besucht zu werden. Kleine Naturschutzgebiete gibt es aber trotzdem hier und da, Holz wird nur wenig verkauft. Wellbrock findet es wichtig, dass Besucher:innen den Wald genießen und ihn schätzen lernen. „Eine Gesellschaft, die pfleglich mit dem Wald umgeht, geht auch pfleglich mit sich selbst um“, meint sie.
Regeln zu beachten sei dabei wichtig: auf den Wegen bleiben, keine Dinge mitnehmen oder liegen lassen. Und vor allem kein Feuer machen. Wirklich nie.
Wir werfen einen ersten Blick auf die Bäume. „Der Grunewald ist ein schöner Mischwald mit verschiedenen Laubbäumen und Kiefern“, erklärt Wellbrock. Wir sehen gleich zu Beginn Eichen, Ahorne, Kastanien, Robinien und dazwischen immer wieder Kiefern.
Laubmischwald, das betont Wellbrock, ist der Wald der Zukunft. Der Weg im Wald führt weg von Monokulturen, also Wäldern mit immer der gleichen Baumart. Die sind eben, wie man weiß, zu anfällig für Schädlinge, die meist auf eine Baumart spezialisiert sind, und erholen sich langsamer. Und es geht weg von der Fichte. Die ist ganz klar die Verliererin der letzten drei Jahre, die extrem heiß und trocken waren. Alle Fichten müssen nach und nach durch andere Baumarten ersetzt werden, die mit den sich verändernden Bedingungen besser zurechtkommen, so Wellbrock. In Berlins Wäldern sind die meisten Bäume Kiefern, die kamen bislang mit den sandigen Böden am besten zurecht. Wärme mögen sie aber auch nicht besonders. Laut Waldzustandsbericht 2020 sind nur noch 7 Prozent von Berlins Bäumen schadlos intakt und nur 5 Prozent der Kiefern. Knapp 3 Prozent sind sogar vollends abgestorben. Zum Vergleich: Deutschlandweit sind immerhin 21 Prozent aller Bäume noch ohne Schäden.
Die Bäume Berlins: Ein Fünftel der Fläche Berlins ist bewaldet, und das Forstamt geht von etwa 20 Millionen Waldbäumen aus. Gezählt werden diese anders als die in der Stadt mit Plaketten versehenen 430.000 Bäume aber nicht. Da es den vielen Berliner Kiefern in dem veränderten Klima immer schlechter geht, pflanzt Berlin jährlich bis zu 450.000 neue Laubbäume, hauptsächlich Buchen und Eichen, um langfristig überall einen aus verschiedenen Baumsorten gemischten Wald zu haben. Mehr Personal und Waldbrandvorsorge sollen ebenfalls her, um den Wald fit zu halten. Dafür stehen bis Ende 2021 3 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung.
Wie es einem Baum geht, erkennt man unter anderem an seiner Krone. Wir wollen uns die Krone einer Kiefer genauer anschauen und müssen dafür eine der Besucherregeln im Grunewald brechen. Wir gehen ein Stück vom Weg ab. Wellbrock deutet auf einen Baum: „Der Stamm sieht schon mal gut aus: unten dunkler, nach oben hin wird er heller. Dass weiter unten einige Zweige trocken und nadellos herabhängen, ist in Ordnung. Dann beginnen die ersten Zweige, schön dunkelgrün. An den Spitzen wachsen sie allerdings pinselartig – ein Zeichen dafür, dass der letzte Jahrgang zwar gewachsen ist, davor aber einige zu Schaden gekommen oder ausgeblieben sind.“ Insgesamt sieht die Krone an einigen Stellen lückenhaft, fast fransig aus. Wellbrock zückt ein Handbuch zur Einschätzung von Kronenverlichtung und gleicht die Bilder mit der Kieferkrone vor uns ab. Sie schätzt, dass diese hier zu 45 Prozent geschädigt ist.
„Die Trockenjahre“, wie Wellbrock die Jahre 2018, 2019 und 2020 nennt, haben auch die Forscher:innen im Thünen-Intitut überrascht. Immer wieder ein trockenes Jahr sei bislang normal gewesen. Aber nicht mehrere hintereinander und vor allem nicht in dieser Intensität. Den Bäumen haben die letzten Jahre viel zugemutet, eine Waldfläche von der Größe des Saarlandes ist dadurch abgestorben.
Aber einige Bäume, so wie diese Kiefer hier im Grunewald, können sich erholen. Der kühle, nasse Frühling hat bereits dafür gesorgt, dass es dem Wald in diesem Jahr deutlich besser geht. Wellbrock freut sich. Viele Bäume sehen schön buschig und grün aus.
Wir gehen weiter. Als Kind, erzählt Wellbrock, habe sie am Rand eines großen, alten Buchenwaldes in Holstein gelebt. Am anderen Ende wohnte ihre Freundin, und so trafen sich die beiden häufig in der Mitte mit ihren Hunden zum Spazierengehen. Nach dem Abitur hat Wellbrock dann entschieden, das Schicksal des Waldes zu ihrem Beruf zu machen. Seit 18 Jahren arbeitet sie mittlerweile für das Thünen-Institut. Sie hat seitdem viele Wälder erforscht, doch die schönsten bleiben für sie jene mit den alten holsteinischen Buchen.
Mit ihrem Sohn ist sie regelmäßig im Grunewald unterwegs, weil der aus der Mitte Berlins so gut erreichbar ist. Sie hat auch schon Schulklassen in den Wald begleitet, um ihn Kindern näherzubringen. Dabei erstaunte sie, dass einige Kinder zwar schon im Wald waren, sich aber gehemmt gezeigt hätten, den Waldboden auch anzufassen. Bei unserem Spaziergang dagegen sehen wir, dass viele Kinder dies im Grunewald sehr wohl tun: Abseits des Weges stehen zahlreiche aus Ästen errichtete Tipis. Zumindest aus Sicht der Umweltbildung keine Sünde. An vielen Stellen liegen im Unterholz alte Bäume und große Äste herum, damit den Spaziergängern das Herumwandern abseits der Wege erschwert wird. Lebensraum für Insekten und Vögel sieht die Waldforscherin in dem alten Holz, Unordnung sehen darin manche Spaziergänger. Nicht wenige rufen deshalb schon mal beim Berliner Forstamt an.
Nach einiger Zeit erreichen wir eine große Kuhle mit Sand, der ein Überbleibsel der letzten Eiszeit ist. Am Wochenende rollen und rennen Kinder den Hang hinunter und spielen auf der kleinen Erhebung an seinem Fuß, einer Wanderdüne. Heute ist es ruhig. Hinter der Düne erstreckt sich ein Feuchtgebiet. Spaß und Naturschutz, das ist im Grunewald nicht selten eng miteinander verzahnt.
Wir steigen eine Holztreppe neben dem Hang hinab, durchqueren eine hochgewachsene Wiese mit rötlichen Gräsern und nähern uns den Tümpeln. Viel Wasser ist nicht drin, aber Weiden und Schilf deuten an, dass noch Wasser im Boden ist, erklärt Wellbrock. Mit dem Aussehen der Bäume ist sie auf den ersten Blick zufrieden. „Sie sehen noch üppiger aus als letztes Jahr“, sagt sie. Bei einer Kiefer untersucht sie ein paar Zweige, an denen spinnennetzartige Fäden hängen. Schädlinge sind das wohl nicht. Dann zeigt sie auf den Waldrand in einiger Entfernung und stellt fest: „Die hat es nicht geschafft.“ Zwischen vielen gesund aussehenden Kiefern steht eine im trockenen Rostbraun erstarrte.
Es sei nicht ungewöhnlich, dass ein Baum abgestorben und alle drum herum gesund sind, erklärt Wellbrock. Bäume sind keine Teamplayer, sondern Individuen, die um die Ressourcen, also Wasser und Nährstoffe, rivalisieren. Wenn diese knapp werden, dann schaffen es manche und andere eben nicht.
Eines wird aus ihren Ausführungen deutlich: Sterben, das wird der Wald erst mal nicht. Er muss sich an die veränderten Nutzungs- und Klimabedingungen anpassen. Und dabei kann ihm geholfen werden. Waldumbau heißt dieser Vorgang in Fachkreisen. Baumarten müssen her, die mit der Trockenheit umgehen können. Die Buchen in Deutschland haben ebenfalls unter den Klimabedingungen zuletzt gelitten, auch wenn nicht so sehr wie manche Nadelbaumarten. Für die nahe Zukunft ist das relevant, denn Buchen kommen auch in ohnehin trockeneren Regionen wie Polen und Südfrankreich vor.
Das Thünen-Institut erforscht derzeit die Anpassungsfähigkeit der Buchen in Deutschland. Sie müssen Trockenheit und Hitze verkraften, aber eben auch mal Kälte. Oder sogar Feuer.
Große Waldbrände werden in Zukunft durch die Hitze und Trockenheit noch zunehmen, sagt Wellbrock und bleibt beim Stufensteigen stehen, sieht sich noch mal um. Durch herabhängende Äste und dicht am Weg stehende Bäume ist die Sanddüne schon nicht mehr zu sehen. Waldbrände, das sei aber etwas, auf das man sich vorbereiten könne. Mehr Personal und Löschmaterial, das auch dann aufrechterhalten werden müsse, wenn mal eine Zeit kommt, die kurzzeitig weniger heiß und trocken sei, meint sie. Der Trend gehe ja trotzdem weiter in diese Richtung.
Wir gehen zurück zum Parkplatz. Der Hauptweg ist von kleinen Kastanien gesäumt. Noch sind die Blätter frisch grün. „Direkt vor meinem Balkon steht eine Kastanie, an deren Blättern ich das Fortschreiten des Sommers gut sehen kann. Ab Juli fangen sie an, braun zu werden“, sagt Wellbrock. Dann beginnen sich die Larven der Miniermotte durch Kastanienblätter zu fressen und lassen sie austrocknen.
Jetzt am frühen Abend kommen immer noch Besucher in den Wald. Vielleicht funktioniert der Satz mit der Waldpflege ja auch andersherum. Eine Gesellschaft, die pfleglich mit sich selbst umgeht – also weiß, dass ihr viel Zeit im Grünen guttut –, geht auch pfleglich mit dem Wald um. Das hofft Nicole Wellbrock. Denn nur durch rücksichtsvolle Nutzung und Pflege kann er uns noch lange bieten, was wir von ihm wollen.
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