Unterricht in Waldorfschulen: Ein Gebet als Morgenspruch
In Waldorfschulen müssen Schüler_innen jeden morgen beten. Nur nennt sich das nicht so. Dieser Trick ist auch bei Sekten üblich.
A lle rund 90.000 Waldorfschüler_innen in Deutschland sagen täglich den „Morgenspruch“ auf, als wäre es das normalste der Welt. Die Lehrkraft macht die Geste zum Aufstehen. Stühlegeklapper und Gescharre. Ordentlich stehen. Stille. Dann im Chor:
„Ich schaue in die Welt; [ …]
In der der Mensch beseelt
Dem Geiste Wohnung gibt; [ …]
Zu Dir, o Gottesgeist,
Will ich bittend mich wenden,
Dass Kraft und Segen mir
Zum Lernen und zur Arbeit
In meinem Innern wachse.“ Rudolf Steiner
Auch wenn es für mich normal war, fand ich es phasenweise unangenehm, denn ich war nie gläubig und das mit dem „Gottesgeist“ war mir spätestens als Teenie komisch. Von der 1. bis zur 4. Klasse war es noch ein anderer Spruch. Aber es gehörte vom ersten bis zum letzten Waldorfschultag, mit 19 Jahren, dazu. Man durfte die Hände nicht in den Taschen haben, musste frei stehen und wenn es zu runtergeleiert war, mussten wir ihn nochmal sprechen.
Aber wie kann es sein, dass in einer Schule, die Wert darauf legt keine Weltanschauungsschule und offen für Kinder aller Religionen zu sein, täglich im Chor gebetet wird?
Viele bemerken es gar nicht, denn es heißt Morgenspruch und nicht Gebet. Rudolf Steiner wollte das dezidiert so. Er sagte im Herbst 1919 zu den ersten Waldorflehrer_innen: „Sehen Sie, bei diesen Dingen kommt es wahrhaftig auf Äußerlichkeiten an. Nennen Sie den Spruch niemals ‚Gebet‘. […] Dann haben Sie das Vorurteil, daß es eine anthroposophische Sache sei, schon für ein gut Stück überwunden.“
Der Bund der Freien Waldorfschulen besteht bis heute darauf, dass Anthroposophie nicht unterrichtet würde. Es gibt auch kein Unterrichtsfach „Anthroposophie“, doch jeder Tag beginnt mit einem anthroposophischen Gebet. Die Klassenlehrkraft steht als „geliebte Autorität“ gleich einer Priester_in vor der „Schicksalsgemeinschaft“ der Klasse, in der die Kinderseelen mit Liebe an die Seele der Lehrkraft gebunden sind.
Der Waldorflehrplan basiert auf Steiners „Allgemeiner Menschenkunde“ und der Schulstoff soll zur „Seelennahrung“ werden. So durchdringt die esoterische Weltanschauung das Leben aller Waldorfschüler_innen vom Alltäglichen bis hin zu den Feiern und Festen.
Nach außen klingt die Waldorfpädagogik oft attraktiv, eben weil sie Worte mit anderen Bedeutungen auflädt. In der amerikanischen Sektenforschung ist der Fachbegriff dafür „Loaded Language“. Waldorfschulen schreiben auf ihren Webseiten z. B. gerne „entwicklungsorientiert“ oder „altersgemäß“ und weisen dabei selten darauf hin, dass sie damit Steiners „Jahrsiebtelehre“ meinen und nicht den aktuellen Stand der Wissenschaft.
Wenn sie schreiben, das Kind stünde im Mittelpunkt, so ist selten ein individuelles Kind gemeint, sondern die abstrakte Idealvorstellung des Kindes, wie Steiner sie beschrieb. Sie reden von „Medienmündigkeit“ und meinen damit doch hauptsächlich Medienverbote. Sie sagen „Willensbildung“ und „Hülle“ und meinen meist doch Disziplin, Gehorsam und durchritualisierten Alltag.
Für mich steht der „Morgenspruch“ inzwischen für die Indoktrination von Waldorfkindern mit Denkbildern der Anthroposophie und für die strategische Täuschung der Außenwelt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga