„Förderung“ an Waldorfschulen: Allein mit dem Heileurythmisten
Mehrmals wöchentlich muss unsere Autorin zur pseudotherapeutischen Heileurythmie – allein. Niemand sagt ihr, warum. Es ist creepy as fuck.
E pochenunterricht. Jeden Morgen 8:00 bis 9:45. Morgengebet, Begrüßung, Sprechübungen, Rhythmusübungen, Singen, Zeugnissprüche und endlich wirklicher Unterrichtsstoff. Meine Klassenlehrerin erklärt etwas. Plötzlich leises Klopfen, die Klassentür öffnet sich vorsichtig und der Heileurythmist steckt seinen Kopf hinein. Er will mich mitnehmen. Also schnappe ich meine Eurythmieschuhe, gehe aus der Klasse in den dunklen Flur und folge ihm. Es ist eine merkwürdige Stille. Normalerweise sind die Gänge und Treppenhäuser mit dem Chaos hunderter Kinder gefüllt. Jetzt bin ich die Einzige und höre hinter jeder Klassentür, an der wir vorbeikommen, gedämpft den laufenden Unterricht.
Die ganze Situation ist unheimlich. Ich laufe schweigend hinter dem ebenfalls schweigenden Heileurythmisten her, den ich nur vom Sehen kenne, bis wir den etwas abseits gelegenen Heileurythmieraum betreten. Eine Art Heiligtum. Vorhänge vor den Fenstern. Mildes Licht. Die Akustik irgendwie dumpf. Ich soll die Eurythmieschuhe anziehen und dann einen Fünfstern laufen, während der Heileurythmist Vokale tönt und ich die Arme entsprechend halte. Irgendwann ist es vorbei. Wieder Schuhe anziehen und er bringt mich zurück in meine Klasse. Ich setzte mich leise wieder auf meinen Platz. Alle tun so, als wär nichts, und ich versuche mich zu orientieren, wo wir im Unterricht inzwischen sind.
Das geht nun einige Wochen mehrmals wöchentlich so. Niemand sagt mir, warum ich zur Heileurythmie muss. Wie lange ich noch muss. Was sich dadurch bessern soll. Nichts. Aber ich frage auch nicht. Weil es eben normal ist. „Jeder ist mal dran“. Es ist creepy as fuck. Ich werde es immer unangenehm finden. Ich bin in den Wochen angespannter im Unterricht, weil ich nicht weiß, wann das leise Klopfen kommen wird, der Heileurythmist seinen Kopf durch den Türspalt steckt, der Klassenlehrerin zunickt und dann mich anschaut, die ihre Eurythmieschlappen nimmt und die Klasse verlässt. Aber ich habe es nie infrage gestellt. Überhaupt haben wir als Kinder nie darüber geredet.
Irgendwann war ich scheinbar fertig und es waren wieder andere Kinder der 1.-8. Klasse dran.
Pseudotherapeutische Behandlungen
Ich habe letztes Jahr herauszufinden versucht, warum und wann ich zur Heileurythmie musste. Ich glaube, zwei bis drei Mal. Meine Eltern erinnern sich nicht daran, dass mit ihnen darüber gesprochen wurde. In meinen Zeugnissen steht auch nichts. Noch nicht mal, dass ich überhaupt Heileurythmie hatte.
Ich wurde also pseudotherapeutisch behandelt, ohne dass eine Indikation und ein „Behandlungserfolg“ zumindest für meine Eltern dokumentiert wurde.
Da es an meiner Schule damals noch keinen Schularzt gab, der das hätte verordnen können, vermute ich, dass es eine Entscheidung der Lehrkräfte in einer „Kinderbesprechung“ war. Personen ohne entsprechende Qualifikationen haben mir also Therapie verordnet, weder mit mir noch mit meinen Eltern drüber gesprochen und mich kommentarlos mit einem mir gruseligen Typen allein in einen Raum geschickt. Niemand hat je gefragt, wie es mir dabei geht. Es war halt so. Daher habe ich zu Hause auch nichts erzählt und war einfach froh, als es wieder vorbei war.
Heileurythmie ist übrigens eine der wichtigsten Komponenten bei dem, was Waldorfschulen „individuelle Förderung“ nennen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pelicot-Prozess und Rape Culture
Der Vergewaltiger sind wir
100 Jahre Verkehrsampeln
Wider das gängelnde Rot
++ Nachrichten zum Umsturz in Syrien ++
Baerbock warnt „Assads Folterknechte“
Trendvokabel 2024
Gelebte Demutkratie
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt