Unterdrückung in Russland: Protest zwischen den Nudelpackungen
Auf das Hochhalten von Tolstois „Krieg und Frieden“ folgt Anzeige, bei offener Kritik am Krieg droht Haft. In Russland verschärft sich die Repression.
Alexandra Skotschilenko, eine junge Künstlerin und Aktivistin, hatte die Preisschilder ausgetauscht. Seit einigen Tagen sitzt die Petersburgerin in Untersuchungshaft, ihr drohen bis zu zehn Jahre Freiheitsstrafe – wegen „öffentlicher Verbreitung wissentlich falscher Informationen über die Handlungen der russischen Streitkräfte“. Es ist einer von mittlerweile 38 Straffällen, in denen wegen des neuen, erst im März eingeführten Zensurgesetzes ermittelt wird. Rund 1.300 Menschen in Russland bekamen wegen der „Diskreditierung der Armee“ bereits Ordnungsstrafen.
Der Angriffskrieg gegen die Ukraine muss in Russland „militärische Spezialoperation“ genannt werden. Was im Nachbarland passiert, wird verklärt und verleugnet. Alle, die sich nicht an der staatlich verordneten Verherrlichung beteiligen und das auch noch öffentlich kundtun, gelten dagegen als Verräter, von denen Russland „gesäubert“ werden müsse, wie der russische Präsident Wladimir Putin vor einigen Wochen erklärte.
Das Leben vieler wird unerträglich. Die einen gehen ins Exil, die anderen wehren sich, indem sie grüne Bändchen als Zeichen des Protests an Bäume in den städtischen Parks hängen. Einem Mann, der das Buch „Krieg und Frieden“ von Leo Tolstoi an der Kreml-Mauer hochhielt, drohen 20.000 Rubel (etwa 250 Euro) Strafzahlung.
Telefonate über die Ukraine sind schon verdächtig
Laut Richterin hat auch Alexandra Skotschilenko mit dem Austauschen der Preisschilder eine „schwerwiegende Handlung gegen die öffentliche Ordnung“ begangen. Die 31-Jährige habe zudem auch noch eine nahe Verwandte in Frankreich und Freunde in der Ukraine, heißt es in der Anklage. Die Vorwürfe sind absurd, zeigen aber die Haltung des Regimes, dass jeder Andersdenkende als „Fremder“ und „von außen Beeinflusster“ zerstört werden müsse.
Das Hinterfragen offizieller Positionen wird kaum noch geduldet. Selbst mit Unterhaltungen am Telefon über den Krieg in der Ukraine machen die Menschen sich verdächtig. Schüler*innen denunzieren ihre Lehrer*innen, Supermarktbesucher*innen andere Supermarktbesucher*innen.
Der prominenteste – und politischste – Fall der neuen Gesetzgebung betrifft eine bekannte Figur der russischen Opposition: Wladimir Kara-Mursa. Der 40-Jährige koordinierte seit den 2000er Jahren im Hintergrund oppositionelle Gruppen und lobbyierte für deren Anliegen im Ausland. Jahrelang setzte er sich außerdem in Europa und den USA für Sanktionen gegen russische Funktionäre ein. Er arbeitete an der Seite des vergifteten und inhaftierten Oppositionspolitikers Alexei Nawalny.
Auch er selbst wurde zweimal vergiftet, und zwar von derselben Gruppe des russischen Geheimdienstes wie auch Nawalny, wie russische und internationale Recherchen im Nachhinein zeigten. Er überlebte die schweren Anschläge. Seine Frau und Kinder leben aus Sicherheitsgründen im Ausland, Kara-Mursa pendelte immer wieder zwischen den USA und Russland. Bis vor knapp zwei Wochen. Seitdem sitzt er in Haft. Ihm wird ein Auftritt vor den Abgeordneten im Repräsentantenhaus in Arizona vorgeworfen. Dabei soll er „Falschnachrichten“ verbreitet und „politischen Hass“ gesät haben.
Überall „ausländische Agenten“
Die Zensurgesetze sind den Behörden allerdings nicht genug. Nun soll die Generalstaatsanwaltschaft auch das Recht bekommen, Redaktionen die Lizenz und Journalist*innen die Akkreditierung zu entziehen. Selbst Büros ausländischer Medien sollen sie dann ohne richterlichen Beschluss schließen dürfen.
Zum „ausländischen Agenten“ kann zudem jeder werden, der „von außen beeinflusst“ werde. Worin diese „Beeinflussung“ besteht, wird nicht erklärt. Auch Verwandte eines „Agenten“ können gebrandmarkt werden, die Sippenhaft kehrt damit offiziell zurück. Firmen und Ausländer*innen können ebenfalls zu „Agenten“ werden. Der Nachweis ausländischer Finanzierung, wie das schwammig formulierte Gesetz bislang gefordert hatte, fällt weg. Damit wird die Hetzjagd auf kritische Geister noch leichter.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Israel, Nan Goldin und die Linke
Politische Spiritualität?
Matheleistungen an Grundschulen
Ein Viertel kann nicht richtig rechnen
Innenminister zur Migrationspolitik
Härter, immer härter
Nikotinbeutel Snus
Wie ein Pflaster – aber mit Style
Prozess gegen Letzte Generation
Wie die Hoffnung auf Klimaschutz stirbt
Börsen-Rekordhoch
Der DAX ist nicht alles