Union in der Krise: Von Wölfen und der CDU
Die christdemokratische Hegemonie ist vorbei. Am Ende der Ära Merkel steht die Union ohne inhaltliches Profil und Visionen nackt da.
I n Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ unterläuft den beiden Auftragskillern Vincent und Jules ein folgenschweres Missgeschick. Versehentlich eliminieren sie in ihrem Auto ihren Gefangenen Marvin und müssen sich nun um den blutüberströmten Autoinnenraum und die Leiche kümmern. Im Haus eines Freundes warten sie auf die von ihrem Boss versprochene Hilfe. Die klingelt tatsächlich kurze Zeit später an der Tür und stellt sich auf denkwürdig pointierte Weise vor: „Mein Name ist Winston Wolf. Ich löse Probleme.“
Und tatsächlich lässt der von Harvey Keitel gespielte Wolf seinen Worten Taten folgen, indem er rasch und unaufgeregt Lösungen für die verfahrene Situation findet, um nach getaner Arbeit ebenso unauffällig wieder zu verschwinden, wie er gekommen war. Lange Zeit galt die CDU als das politische Äquivalent dieser Figur, die perfekt den nüchtern-effizienten Umgang mit unübersichtlichen Krisensituationen verkörpert.
Diesen Appeal verstand die CDU gar in das umzumünzen, was sich ohne größere Übertreibungen als christdemokratische Hegemonie beschreiben lässt – die aber nun erstmals in den letzten fünfzehn Jahren ernsthaft zu bröckeln beginnt. Dafür ist neben anderen Faktoren der besondere Charakter dieser Hegemonie verantwortlich. Zu diesen Faktoren gehört vor allem das Ende der Ära Merkel in Verbindung mit einer in der Geschichte der CDU beispiellosen Führungskrise.
Man erinnert sich noch dunkel daran, wie zukunftsfroh sich die Partei zur Zeit des ersten Rennens um den Parteivorsitz gab und sich von diesem „Meilenstein“ innerparteilicher (Christ-)Demokratie einen Schub erhoffte, der endlich die dunklen Wolken der Bundestagswahl 2017 vertreiben würde. Doch schon das knappe Ergebnis des Hamburger Parteitags ließ die Sorgen über das christdemokratische Binnenklima zurückkehren.
ist Politikwissenschaftler. Sein Buch „Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ erschien 2018 bei Matthes & Seitz.
Nach einem etwas verstolperten Beginn als Parteivorsitzende sorgte der von der CDU-Fraktion im Thüringer Landtag vor etwas mehr als einem Jahr verursachte Kemmerich-Eklat letztlich dafür, dass Kramp-Karrenbauer die persönlich integre, aber für die Partei fatale Entscheidung traf, ihr Amt zur Verfügung zu stellen.
Die Chefin schimpft
Was folgte, ist bekannt: eine Vorsitzendenkür, die sich coronabedingt quälend lange hinzog, ein Kandidat, der sich gar als Opfer einer Intrige der Parteiführung wähnte, und ein glanzloser Sieg des Gespanns Laschet/Spahn. Damit war das Führungsvakuum noch keineswegs überwunden, denn bis zum heutigen Tag ist ungeklärt, ob Laschet oder Söder im Herbst als Kanzlerkandidat antreten wird.
Bis dahin bleibt aber eben eine zunehmend entkräftet wirkende Bundeskanzlerin noch im Amt und Laschet nur ein aufgrund seiner Coronapolitik umstrittener und gar von der Kanzlerin öffentlich kritisierter Ministerpräsident. Diese Schwierigkeiten, die sich die Partei gewissermaßen selbst eingebrockt hat – schöne Grüße nach Erfurt! –, sind nur ein Faktor in der Misere der CDU. Er wiegt aber umso schwerer aufgrund der gesamten Konstellation.
Das bringt uns zum eigentümlichen Charakter der christdemokratischen Hegemonie. Der Begriff der Hegemonie, der auf den italienischen Kommunisten Antonio Gramsci zurückgeht, bezeichnet den moralisch-politischen Führungsanspruch einer Partei oder Bewegung. Gewöhnlich gründet er sich auf bestimmte Leitideen, die auch über die Partei hinaus gesamtgesellschaftlich zumindest passive Zustimmung für sich verbuchen können.
Das Besondere an der christdemokratischen Hegemonie besteht darin, dass ihr Führungsanspruch im Laufe der letzten fünfzehn Jahre immer weniger auf irgendwelchen substanziellen Leitideen und spätestens seit der Finanzkrise 2008 zusehends auf der erfolgreichen Selbstdarstellung als Winston Wolf der deutschen Politik basierte.
Die Christdemokratie hatte immer weniger inhaltliches Profil und (konservative) Substanz anzubieten, dafür wurde ein genuin konservativ-christdemokratischer Politikmodus erkennbar: das beharrliche Management immer neuer Krisen, deren Folgeprobleme in Nachtsitzungen in Brüssel, Minsk oder Berlin klein geraspelt wurden.
Das Politikmodell, mit kleinen Schritte durch die Krisen zu gehen, verkörperte ideal die Kanzlerin, die „die Dinge vom Ende her denkt“ und die Not des „Auf-Sicht-Fahrens“ in unübersichtlichen Situationen zur Tugend eines rein prozedural bestimmten Konservatismus erhob.
Krisenmanagement anstelle von Politik
Die Grundlage der christdemokratischen Hegemonie bestand dabei nicht nur in der Selbstinszenierung als seriöse „Kraft der Mitte“, die den Laden zusammenhält, sondern auch in der Apostrophierung des ultrapragmatischen Dauerkrisenmanagements als einzig denkbare Art der Politik: einer Politik, die sich jeglichen inhaltlichen Gestaltungsanspruch über den Moment hinaus ausgetrieben hat, ganz zu schweigen von der Vorstellung von Politik als dem Medium, in dem politische Gemeinschaften selbstbestimmt ihre kollektiven Bedingungen des Zusammenlebens aushandeln.
Politik konnte nichts anderes mehr sein als das Reagieren auf eine volatile Welt und auf krisenhafte Zuspitzungen, und die CDU konnte sich in dem Ruf sonnen, dass sie diesen Modus politischen Handelns perfekt oder doch zumindest besser als die politische Konkurrenz beherrschte. Aber war dieser Ruf eigentlich jemals gerechtfertigt? Bevor man dieses Narrativ unbesehen übernimmt, wäre eine gewisse Skepsis angebracht, die sich exemplarisch an drei Punkten festmachen lässt.
Da ist zunächst die Eurozonenkrise, deren Management neben dem der Finanzkrise den Ruf der Christdemokraten als Troubleshooter im Stile eines Mr Wolf begründete. Schließlich ging beides für Industrie, Banken und Bevölkerung vergleichsweise glimpflich ab, und nebenbei wurde auch noch Europa gerettet. Was das Bild aber trübt, ist zum einen die Tatsache, dass die schmerzhaften Anpassungsleistungen zur Bewältigung der Krise disproportional den Ländern Südeuropas aufgebürdet wurden.
Die Kosten einer systemischen Krise wurden von der deutschen Politik unter christdemokratischer Führung systematisch externalisiert. Zum anderen verursachte es womöglich das viel gepriesene deutsche Krisenmanagement selbst, dass sich – durch das Muster des ewig zögernden too little, too late, das sich durch die diversen Akte der Krise zog – eine griechische Schuldenmisere, die man durch beherztes finanzielles Eingreifen zu einem letztlich sehr viel niedrigeren Preis im Keim hätte ersticken können, zu einer in vielerlei Hinsicht verheerenden Eurozonenkrise auswuchs.
Von der SPD inspiriert
Dass Deutschland recht unbeschadet durch die langwierige Doppelkrise kam und es nicht zu noch größeren Verwerfungen kam, ist aber nicht nur das zweifelhafte Verdienst der Christdemokratie. Vielmehr waren es gerade sozialdemokratische Regierungsakteure und von ihnen initiierte Politiken, die entscheidend zum Image der Regierung als Krisenbewältigungsspezialistin beitrugen.
An Beispielen mangelt es nicht, angefangen bei der Verlängerung des Kurzarbeitergeldes in der Finanzkrise bis hin zu den Corona-Nothilfemaßnahmen der Gegenwart. Und auch unabhängig von Krisensituationen bediente sich die Union immer wieder sozialdemokratischer Inhalte und deklarierte sie, soweit es opportun erschien, mit einer Nonchalance zu dem um, was man eigentlich schon immer selbst vertreten hätte.
So machen das Konservative nun einmal, wenn sich der Lauf der Zeit beim besten Willen nicht mehr aufhalten lässt. Bleibt zuletzt noch das einzig verbliebene inhaltliche Prestigeprojekt der „schwarzen Null“ – an der die Christdemokratie gegen alle Widerstände festhielt und daran das Narrativ der soliden Haushaltspolitik knüpfte –, die Europa als Vorbild der Sparsamkeit dienen soll. Doch dies war vor allem Rhetorik.
Denn von der Bevölkerung wurde ja nicht unbedingt auf gut konservative Art gefordert, den Gürtel enger zu schnallen und finanzielle Opfer zu bringen. Die schwarze Null wurde nicht so sehr durch fiskalpolitische Ausgabendisziplin ermöglicht als vielmehr durch sprudelnde Steuereinnahmen, einen florierenden Exportsektor, niedrige Zinsen und die Möglichkeit des Staates, sich zum Nulltarif Geld zu leihen – Faktoren, auf die die christdemokratische Regierungspolitik nur bedingt Einfluss hatte.
Doch die schwarze Null ist nun passé und nicht nur sie. Auch die Krisenkompetenz der CDU schwindet angesichts der vielfältigen Versäumnisse im Umgang mit der Pandemie rasant. Nun rächt sich die Verengung der Christdemokratie auf das pragmatische Auf-Sicht-Fahren.
Ändern, damit es bleibt, wie es ist
Denn wenn das immer mehr zum Schlingerkurs wird und zudem Führungspersonal fehlt, dem man gerne das Steuer anvertraut, steht man als Partei plötzlich mit leeren Händen da – sieht man einmal von denen in der Union ab, die sich zu allem Überfluss mit Maskendeals und anderem bereichert haben.
Dass sich die christdemokratische Hegemonie nun als tönern erweist, hat aber zuletzt auch damit zu tun, dass sie ihren Prozeduralkonservatismus des ewigen Krisenmanagements nicht so konsequent zu Ende gedacht hat, wie die adlige Titelfigur aus Giuseppe Tomasi de Lampedusas „Der Leopard“, die angesichts der Unwägbarkeiten der Zeit die Maxime verkündet: Alles muss sich ändern, damit alles bleiben kann, wie es ist!
In dieser paradoxen Formulierung scheint eine Erweiterung des Prozeduralkonservatismus im Sinne eines konsequenten Präventionsregimes auf, in dessen Rahmen ständig mit Blick auf die ungewisse Zukunft an kleinen Schrauben gedreht werden muss, um das zu erreichen, was heute gerne mit dem schillernden Begriff der Resilienz bezeichnet wird. Doch dazu bräuchte es Entwürfe, Szenarien und Gestaltungswillen über das Hier und Heute hinaus.
Bis zu diesem Punkt ist das CDU-Krisenmanagement nur selten gelangt, weder in der Eurozonenkrise noch in der aktuellen Pandemie. Diese Woche hat Armin Laschet nun sein mit heißer Nadel gestricktes Wahlprogramm vorgestellt und genau solche Gestaltungsansprüche zumindest angedeutet. Es wird sich zeigen, ob dies noch verfängt oder ob die Bilanz auch im Management der parteiinternen Krise letztlich lautet: Too little, too late.
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