Ungekennzeichnete Werbung auf X: Seele, scheibchenweise verkauft
Produktplatzierung? Verdeckte Werbung? Was im Netz mitunter für Aufregung sorgt, ist offline längst Standard. Doch das macht es nicht besser.
N un also auch X. Die Online-Plattform, die wahrscheinlich auf ewig „X, ehemals Twitter“ genannt werden wird, verkauft ja schon seit geraumer Zeit scheibchenweise ihre Seele. Jüngst war ein echtes Filetstück dran: Es lässt sich – zunächst in den USA – nun Werbung schalten, die nicht als solche gekennzeichnet im persönlichen Feed von Nutzer:innen auftaucht. Wer der Werbetreibende ist, geht nicht daraus hervor.
In den goldenen, popcorn-orientierten Twitter-Zeiten wäre das eine Steilvorlage für Ratespiele gewesen: Wer wirbt dafür, sich bei Tinnitus Babyöl ins Ohr zu schütten? Kein Witz, ein entsprechender Post war tatsächlich zu sehen. Der Hersteller? Ein Clickbait-Portal, das mit Sensations-Schlagzeilen auf Nutzer:innenfang geht? Oder doch ein Akteur aus der HNO-Branche auf der Suche nach Kundschaft?
Jedenfalls: Bei X, ehemals Twitter, sind sie natürlich nicht die ersten, die auf neue Einkommensquellen kommen. Bei Youtube, Instagram und Co sind Produktplatzierungen praktisch Standard. Und Anbieter von Streamingdiensten mit ihren ohnehin undurchsichtigen Algorithmen haben es noch leichter, einen gesponserten Inhalt einzubauen.
Andererseits: Auch in dem Stream, den wir Leben nennen, sind Produktplatzierungen überall. Lebensmittelhersteller zahlen für den besten Platz im Supermarktregal. Der Inhaber des Fahrradladens vereinbart Exklusivität mit einer ganz bestimmten Helmmarke. Und in der Praxis verschreibt der:die Ärzt:in bevorzugt das Präparat, das der Mensch vom Pharmaunternehmen vorletzten Monat so gepriesen hat.
Potenzierte Möglichkeiten
Die Digitalisierung macht also einfach das, was sie am besten kann: die Möglichkeiten potenzieren. Die smarte Küchenmaschine, die dezent Werbung für eine bestimmte Marke einfließen lässt. Das vernetzte Auto, das nicht nur die stauärmste Strecke vorschlägt, sondern zufälligerweise eine, die an einem ganz bestimmten Elektronikhändler vorbeiführt. Oder Eisladen oder Drogerie oder Fitnessstudio, kommt halt ganz darauf an, wer zahlt und wer im Auto sitzt.
Und warum sollte etwa ein Gastronom darauf verzichten, sich durch ein bisschen Provision eine besondere Hervorhebung beim Navigationsdienst zu erkaufen, auf dass Ortsunkundige auf der Suche nach Kaffee als Erstes die eigene Lokalität finden?
Im besten Fall werden findige Unternehmer:innen ein Gegenmittel entwickeln: Ad-Blocker, die den ganzen ungewollten Werbekrams herausfiltern. Nur eine Sache bräuchte es dann noch: Einen Ad-Blocker für das Offline-Leben.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Umgang mit der AfD
Sollen wir AfD-Stimmen im Blatt wiedergeben?
Utøya-Attentäter vor Gericht
Breivik beantragt Entlassung
Pistorius lässt Scholz den Vortritt
Der beschädigte Kandidat
Böllerverbot für Mensch und Tier
Verbände gegen KrachZischBumm
Warnung vor „bestimmten Quartieren“
Eine alarmistische Debatte in Berlin
Haftbefehl gegen Netanjahu
Begründeter Verdacht für Kriegsverbrechen