Unabhängigkeitstag in der Ukraine: Langsam nach vorn
Vor 25 Jahren wurde die Ukraine unabhängig von der Sowjetunion. Was hat sich seitdem verändert, in der Poltik, im Alltag? Eine Bilanz.
Zum 25. Unabhängigkeitstag der Ukraine am 24. August möchte ich über mein Land erzählen. Keine Geopolitik, keine ruhmreichen Geschichten! Schlichte Sachen über den Alltag; darüber, wie es einem einfachen Ukrainer all die Jahre erging.
Ich wurde 1987 geboren, vier Jahre vor dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Ich gehöre zur Generation, die in einer unabhängigen Ukraine aufgewachsen ist. Was wir als Kinder sahen, war der wirtschaftliche und soziale Ruin eines Eximperiums. Fabriken zerfielen, Busse und Züge verrotteten, das Alu-Geschirr in der Kita ließ einen metallenen Beigeschmack zurück. Alles um uns herum war sowjetisch, wir verabscheuten es von ganzem Herzen.
Mag sein, dass die Älteren, die noch die Zeit der Stagnation erwischt haben, sich an einen obligatorischen Arbeitsplatz, kostenlose Medizin oder soziale Leistungen erinnern konnten. Wir jedoch – die Kinder der Brüche historischer Epochen – sahen ausschließlich den wirtschaftlichen Kollaps, die Mutation der Staatsdiener in korrumpierte Banditen und leere Regale. Desto spannender und moderner schien uns alles, was aus dem Westen kam – Kleidung, Autos, Filme, Musik oder der Kaugummi mit bunten Aufklebern. Wir hatten gar keine Alternative zur europäischen Gesinnung.
Meine Generation war der Motor beider Revolutionen – der orangen von 2004 und des Euromaidans von 2013. Weil wir keine Angst hatten; wir wussten gar nicht, was es heißt, in einer Atmosphäre totaler Einschüchterung zu leben. Und: Wir liebten unser Land, missachteten aber unseren Staat. Wir waren Patrioten, interessierten uns für ukrainische Geschichte und Kultur, bewunderten die Natur, sangen während der Fußballturniere mit Inbrunst die Hymne und schwenkten die gelb-blauen Fähnchen. Wir waren überzeugt, dass unser Volk eines besseren Lebens würdig war.
Durch Russlands Politik wurden wir europäischer
Aber diesen bürokratischen Staatsapparat, diese ganzen fettbäuchigen Kommunisten, die sich nach dem Zerfall der UdSSR zu Demokraten umgefärbt haben und an der Macht blieben, die Exfabrikdirektoren, die sich ganze Vermögen geklaut haben und zu neuen Bossen des Lebens aufschwangen, all die käuflichen Milizionäre, das allgegenwärtige Schmiergeld – dieses postsowjetische Monster, noch ungeheurer als in „Das Schloss“ Kafkas, haben wir gehasst. Deswegen sind wir auf die Plätze unserer Städte gezogen.
Andrij Ljubka, geboren 1987, ist einer der erfolgreichsten jüngeren Schriftsteller der Ukraine. Sein Werk wurde mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien 2015 der Roman „Karbid“ über Schmuggler in der Karpatenukraine
Nach dem Sieg 2004 habe ich triumphiert. Es schien, sämtliche Perspektiven würden sich mir und meinem Land eröffnen. Aber Monate und Jahre vergingen, und nichts tat sich.
Zehn Jahre später gingen wir erneut auf die Straße, zum Euromaidan. Unser Bekenntnis zu Europa, obwohl wir seit über 20 Jahren unsere Regierung zwingen, Richtung Westen zu gehen. Aber ausgerechnet durch Russlands Politik ist die Ukraine europäischer geworden: Seit der Krim-Annexion und dem Verlust des Donbass hat sie einen Löwenanteil an prorussischen Wählern verloren.
Meine ausländischen Freunde denken trotzdem, uns verbinde vieles immer noch mit Russland, und fragen, warum wir so inständig „nach Europa“ wollen. Statt über die europäische Wiege der ukrainischen Kultur, über den Barock und die Freiheitsliebe als Bestandteil der ukrainischen Mentalität zu erzählen, rede ich dann von den kleinen und schlichten Dingen. Vom Alltag.
Wenn sich ein Ukrainer in seiner Wohnung heutzutage umschaut, findet er keine russischen Waren. Bis auf Gas und Propaganda-Seifenopern im Fernsehen. Keiner würde sich heute ein russisches Auto, Geschirr- oder Möbelstück, geschweige denn ein in Russland hergestelltes technisches Gerät kaufen wollen. Wir haben uns von Russland entfernt, auch wenn es bei uns nicht selten ähnlich aussieht.
Ich bin öfter auf Einladung von Literaturfestivals in Russland gewesen und habe gesehen, dass die Straßen dort genauso schlimm sind wie in der Ukraine. Schulen und Krankenhäuser wurden seit Ewigkeiten nicht renoviert, Rentner können sich nicht mal eine Tasse Kaffee oder einen Kinobesuch leisten.
Wir sind auf dem richtigen Weg
Es gibt aber auch einen Unterschied: Unser nördlicher Nachbar besitzt in Sibirien einen unerschöpflichen Reichtum an Gas und Erdöl. Norwegen, das ebenso gut an seinen Bodenschätzen verdient, konnte einen fantastischen Staat mit hochentwickelter Infrastruktur aufbauen und ist einer der Anführer auf der Liste der florierendsten und menschenfreundlichsten Länder der Welt. Das Leben der Menschen in Russland hingegen ist genauso hart und schutzlos wie in der Ukraine.
Weil es sein vieles Geld nicht für die Lebensverbesserung der eigenen Bevölkerung ausgibt, sondern allein für die Befriedigung seiner imperialen Ambitionen. Bombardements in Syrien, Finanzspritzen an Quasirepubliken wie Transnistrien, Donbass, Ossetien oder Abchasien, Bestechung europäischer Politiker und die Propaganda. Anhand dieser schlichten Tatsachen beschlossen die Ukrainer, dass sich ihre Wege von denen der Russen scheiden. Sie wollten mit denjenigen in die Zukunft aufbrechen, die die modernsten Computer und nicht die mörderischsten Bomben entwickeln.
Das ist der richtige Weg; und auch wenn ich vieles vernichtend kritisieren könnte – viel zu langsame Reformen, korrumpierte Eliten, die Mängel der Kiewer und lokalen Regierungen – ist das 25-jährige Jubiläum der Unabhängigkeit der Anlass, die Situation aus einer längerfristigen Perspektive zu sehen. Und das macht optimistisch.
Ich lebe in der Stadt Ushhorod; ich kann mich sehr gut an den Anfang der Neunziger erinnern, ich sehe, wie vieles sich seitdem geändert hat. Was für einen Weg nach vorn wir zurückgelegt haben!
Damals hatten wir keine jungen, gebildeten politischen Eliten. Damalige Politiker, made in der SU, kannten die Welt nicht, sie wussten nicht, wie man Reformen durchführt, wie man eine freie Marktwirtschaft schafft. Heute gibt es diese Eliten, und unter den Parteien im Parlament gibt es einen Wettbewerb darum, welche der Parteien mehr junge Leute mit sauberer Weste und europäischen Diplomen aufweisen kann.
Das Wort „Ukraine“ hat sich mit Sinn gefüllt
In diesen zweieinhalb Jahrzehnten haben wir mehrmals unsere proeuropäische Gesinnung unter Beweis gestellt und die Demokratie bei zwei Revolutionen mit Blut verteidigt. Sachen gelten als selbstverständlich, die es früher nicht mal im Ansatz gab, Rampen für Rollstuhlfahrer zum Beispiel. Auf der Straße trifft man immer mehr Menschen, die Deutsch, Englisch oder Französisch reden. In meiner Straße hängt ein Billboard, das darüber informiert, dass der Staat dem Bürger 30 Prozent des Preises für Kunststofffenster oder einen Heizkessel mit alternativem Brennstoff bezahlt.
Als ich zur Schule ging, pfiff der Wind durch die Scheiben, und im Hof, wo das Rohr entlanglief, schmolz der Schnee. Heute haben Schulen und Krankenhäuser gedämmte Fenster.
Auf dieser niedrigsten Ebene – eines Menschen, einer Familie, einer Wohnung – wird der Grundstein für die energetische Unabhängigkeit des Landes gelegt. Heute sind wir ein Staat mit einem enormen Gasverbrauch und einer schwachen Wirtschaft.
Fakten sprechen ihre eigene Sprache, auch gegenüber dem großen Nachbarn. Die Ukraine, die keine aktive militärische Unterstützung vom Westen erhalten hat, konnte aus eigener Kraft die russische Aggression stoppen. Die Russen sprachen einst von „Neurussland“, das sich Hunderte von Kilometer nach Westen, bis nach Charkiw und Odessa, erstrecken sollte. Dieser Plan ist nicht aufgegangen. Die Ukraine hat über eine Million Flüchtlinge von der Krim und aus dem Donbass untergebracht und ist nicht kollabiert.
Gut, wir sind nicht zu einem „Tigerstaat“ geworden. Aber wir bewegen uns langsam und zielstrebig nach vorn. Diese 25 Jahre waren eine Zeit, in der sich der Begriff „Ukraine“ mit Sinn füllte, so wie klitzekleine Quadrate auf dem Bildschirm zeigen, dass sich der Computer lädt. Der größte Anlass für Optimismus ist die Tatsache, dass die Ukrainer kapiert haben: Damit der Computer besser funktioniert, sollte man nicht den Bildschirm, sondern den Prozessor ersetzen. Man sollte sich selbst ändern, und das tun wir – Tag für Tag. 25 Jahre lang.
Aus dem Ukrainischen von Irina Serdyuk
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen