Unabhängigkeitspolitiker vor Gericht: Der katalanische Prozess
In Madrid beginnt der Prozess gegen ein Dutzend katalanische Unabhängigkeits-Aktivisten. Der Konflikt hat nichts an Sprengkraft verloren.
Neben dem ehemaligen Vizechef der katalanischen Regierung, Oriol Junqueras, sitzen acht ehemalige Minister und Ministerinnen sowie die ehemalige Präsidentin des katalanische Parlaments, Carme Forcadell, auf der Anklagebank. Auch die Vorsitzenden der beiden wichtigsten Bürgerbewegungen für die Loslösung von Spanien, Jordi Sánchez von der Katalanischen Nationalversammlung (ANC) und Jordi Cuixart des Kulturvereins Òmnium Cultural, müssen sich verantworten.
Neun der zwölf Angeklagten werden der „Rebellion“ beschuldigt, der Rest des „Aufstandes“ oder des „schweren Ungehorsams“. Hinzu kommt bei einigen der Vorwurf der „Veruntreuung öffentlicher Gelder“.
Der ehemalige katalanische Regierungschef und berühmteste Katalanenvertreter Carles Puigdemont sowie sechs weitere Politiker stehen nicht vor Gericht. Sie hatten sich rechtzeitig ins Ausland abgesetzt. In Abwesenheit darf in Spanien gegen niemanden verhandelt werden. Puigdemont befindet sich derzeit in Brüssel im Exil.
Das Verfahren ist das erste – nicht aber das einzige
Das Verfahren vor dem obersten Gerichtshof ist das erste, aber nicht das einzige in Sachen 1. Oktober. Von der katalanischen Polizeiführung bis hin zu Direktoren von Schulen, in denen abgestimmt wurde, und Bürgermeister, die das Referendum unterstützen, wird Hunderten von Unabhängigkeitsbefürwortern der Prozess gemacht.
Die Angeklagten hätten „eine Strategie verfolgt“, um zwischen Regierung, Parlament und den beiden Unabhängigkeitsorganisationen „das Vorgehen abzustimmen“ und so „die verfassungsmäßige Ordnung mit dem Ziel der Unabhängigkeit Kataloniens zu brechen“, heißt es in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft. „Sie dachten über den Einsatz aller Mittel nach, die erforderlich sind, um ihr Ziel zu erreichen, einschließlich (…) notwendiger Gewalt (…) zum einen mittels der einschüchternden Wirkung, die von tumultartigen Handlungen der großen Mobilisierungen ausgeht, zu denen sie gerufen hatten (…).„ Zum anderen hätten sie dies mit dem Einsatz der katalanischen Polizei Mossos d’Esquadra versucht.
Tatsächlich allerdings verliefen die Großdemonstrationen zugunsten der katalanischen Unabhängigkeit völlig friedlich. Und bei der Abstimmung am 1. Oktober ging nur von der spanischen Nationalpolizei und Guardia Civil Gewalt aus. Deren brutale Einsätze in Wahllokalen verursachten knapp 1.000 Verletzte. Auch kam es zu keinem bewaffneten Aufstand der Autonomiepolizei Mossos d’Esquadra.
Doch der Staatsanwaltschaft reicht die Unterstellung, Gewalt in Erwägung gezogen zu haben, um den Vorwurf der Rebellion aufrechtzuerhalten. Sie fordert zwischen 17 und 25 Jahren Haft. Die Anwälte des Staates, die die Interessen der Regierung vertreten, gehen nur vom Vorwurf des „Aufstandes“ aus und verlangen acht bis zwölf Jahre Haft. Die Hauptverhandlung soll Schätzung des Obersten Gerichtshofs drei bis vier Monate dauern.
Die rechtsradikale Partei VOX, die Nebenklägerin ist, würde am liebsten bis zu 74 Jahre Haft sehen. Die politischen Erben der Franco-Diktatur finden noch den Tatbestand der „kriminellen Vereinigung“ gegeben. Die Hauptverhandlung soll drei bis vier Monate dauern. Das Urteil wird anschließend Monate auf sich warten lassen.
Die Verteidiger der Angeklagten bezeichnen den Prozess allesamt als politisches Verfahren. „Es war notwendig einen Tathergang auf Grundlage von erfundenen Tatsachen zu konstruieren, indem sie die Gewalt in den Vordergrund stellen – auch wenn das Unsinn ist“, erklärt Andreu Van den Eynde, Verteidiger des ehemaligen Vizeregierungschefs Junqueras.
Die Unabhängigkeitsbewegung sei in den letzten Jahren immer stärker geworden. „Der Vorwurf der Rebellion gegen die Führer der Unabhängigkeitsbewegung soll dieses Wachstum bremsen“, sagt Van den Eynde. Einen Freispruch oder sehr niedrige Strafen für die zwölf hält er für ausgeschlossen. „Der Skandal nach so langer Untersuchungshaft wäre gewaltig“, sagt Van den Eynde.
Referendum Die Regierung unter dem Regionalpräsidenten Carles Puigdemont lässt am 1. Oktober 2017 gegen den Willen der spanischen Zentralregierung in Madrid eine Abstimmung über die Unabhängigkeit Kataloniens abhalten. Das spanische Verfassungsgericht hatte das Referendum zuvor für illegal erklärt. Am Tag des Votums geht die spanische Polizei gewaltsam gegen Wähler und Demonstranten vor.
Ergebnis Nach Angaben der Regionalregierung stimmen 90 Prozent für die Unabhängigkeit. Rund 43 Prozent nehmen teil.
Entmachtung Nachdem das katalanische Parlament die Unabhängigkeit Kataloniens erklärt hat, übernimmt Madrid Ende Oktober 2017 mithilfe des Artikels 155 die Kontrolle über die Region. Der damalige konservative Regierungschef Mariano Rajoy erklärt Puigdemont für abgesetzt. Im März 2018 wird Anklage gegen gut ein Dutzend Unabhängigkeitspolitiker erhoben. afp/taz
Auch für 120 Juraprofessoren von Universitäten unterschiedlicher Regionen Spaniens ist der Vorwurf der „Rebellion“ und des „Aufstands“ völlig überzogen. Dies „öffne die Tür zur Banalisierung“ dieser Straftatbestände, „die in einer Demokratie praktisch nicht vorkommen“, heißt es in einem Manifest, das sie geschrieben haben.
Vorwurf der Veruntreuung ist umstritten
Diego López Garrido, der Juraprofessor, der die entsprechenden Paragrafen bei einer Strafrechtsreform in den 1990er Jahren ausgearbeitet hat, erklärte, diese seien für militärische Putschversuche gedacht gewesen – und nicht für Bewegungen wie die in Katalonien.
Die belgische, schottische und deutsche Justiz konnten ebenfalls keine Rebellion und keinen Aufstand ausmachen. Sie lehnten deshalb eine Auslieferung der im Ausland lebenden katalanischen Politiker ab.
Selbst der Vorwurf der Veruntreuung öffentlicher Gelder ist umstritten. „Ich weiß nicht, wie der 1. Oktober finanziert wurde. Aber es war nicht mit öffentlichen Geldern“, erklärte kein Geringerer als Cristobal Montoro, konservativer Finanzminister in Madrid während der Referendumsvorbereitung, in einem Interview. Im Verfahren wird er als Zeuge vernommen.
Insgesamt sind 500 Zeugen geladen, unter ihnen der ehemalige konservative Ministerpräsidenten Mariano Rajoy. 2.100 Seiten Dokumente werden gesichtet. Über 600 Journalisten haben sich akkreditiert, darunter 50 internationale Medien. Die Hauptverhandlung, die live im Fernsehen übertragen wird, soll drei bis vier Monate dauern. Dem Prozess ist also die Aufmerksamkeit sicher.
Regierungschef Sánchez braucht die Katalanen
Anders als bei sonstigen Verfahren dürfen die Fernsehteams aber vor dem Gericht keine Bühnen errichten; aus Sicherheitsgründen, heißt es vonseiten der Behörden. Die internationalen Prozessbeobachter unterschiedlicher Menschenrechtsorganisationen werden vom Gericht nicht anerkannt. Sie dürfen zwar den Gerichtssaal betreten. Doch einen Sonderstatus gibt es nicht. „Jeder Bürger, der internationaler Beobachter sein will, kann das werden“, erklärt der Vorsitzende des obersten Gerichtshofes, Carlos Lesmes, und verweist auf die TV-Übertragung.
Die Gerichtsverhandlung droht überdies die spanische Regierung des Sozialisten Pedro Sánchez in den Abgrund zu reißen. Er braucht die Stimmen der katalanischen Parteien im spanischen Parlament, um den Haushalt zu verabschieden und so bis Ende der Legislaturperiode 2020 an der Macht zu bleiben. Angesichts des Verfahrens drohen die Unabhängigkeitsbefürworter nun aber, den Haushalt platzen zu lassen.
Um die Lage zu beruhigen, hat Sánchez der katalanischen Regierung einen Dialog angeboten – und sich nun erstmals auf einen unabhängiger „Berichterstatter“ eingelassen. Dieser sollte mit am Tisch sitzen und genau aufzeichnen, über was geredet wird und auf was sich beide Seiten einigen. Den Rechten ist das ein Schritt zu viel in Richtung der Katalanen: Obwohl Sánchez dieses Angebot am Freitag zurückzog, werfen ihm seine Gegner nun „Ausverkauf der spanischen Einheit“, ja „Verrat“ und „Treuebruch“ vor.
Die konservative Partido Popular und die rechtsliberalen Ciudadanos riefen am Sonntag deshalb zusammen mit der rechtsextremen VOX und neofaschistischen Gruppen in Madrid zu einer Großkundgebung zur Verteidigung der Einheit Spaniens und für den Sturz der Regierung Sánchez auf. Die spanischen Behörden bezifferten die Teilnehmerzahl auf etwa 45.000 Menschen, die Organisatoren wollen viermal so viele Demonstranten gezählt haben. Der Katalonienkonflikt hat also knapp eineinhalb Jahre nach dem Referendum nichts an Sprengkraft verloren.
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