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Umsturz in SyrienKur­d*innen aus Nordsyrien vertrieben

In Nordsyrien bedrohen pro-türkische Milizen die kurdische Selbstverwaltung. Durch Kämpfe und türkische Bombardierungen werden Zehntausende vertrieben.

Flüchtende Kurd:innen: Die sogenannte Syrische Nationale Armee (SNA) greift im Norden des Landes mit Unterstützung der Türkei kurdische Gebiete an Foto: Rami Alsayed/imago

Berlin taz | Während in Städten wie Aleppo, Idlib oder Damaskus gefeiert wird, gehen die bewaffneten Gefechte in Nordsyrien weiter. Dort greifen Kämpfer der sogenannten Syrischen Nationalen Armee (SNA) mit Unterstützung der Türkei die kurdischen Gebiete an. Nach schweren Kämpfen hat die protürkische SNA am Dienstag die Kontrolle in Manbidsch übernommen.

Um die Stadt nahe der türkischen Grenze mit rund 70.000 Einwohnenden wurde zwei Wochen lang gekämpft. Um Zi­vi­lis­t*in­nen zu schützen, wollen sich die kurdischen Milizen der sogenannten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) aus Manbidsch zurückziehen, meldete ihr Kommandeur, Maslum Abdi, am Mittwoch. Mit der SNA sei inzwischen eine Waffenruhe vereinbart.

Manbidsch war die letzte von den Kurdenmilizen kontrollierte Stadt westlich des Flusses Euphrat. Die Türkei verdrängt die Kur­d*in­nen aus ihren Gebieten in Nordsyrien in Richtung Ostsyrien. Die Türkei will eine militarisierte Zone rund 30 Kilometer ins Landesinnere Syriens entlang der gemeinsamen Grenze schaffen.

Übergriffe durch islamistische Gruppierungen

Dazu fliegt sie auch Luftangriffe auf kurdische Gebiete in Nord- und Ostsyrien. Seit Langem greift die Türkei immer wieder zivile kurdische Orte mit Drohnen, Artillerie und Kampfjets an. Mit dem erfolgten Umbruch nutzt die türkische Regierung nun die Chance, ihren Einfluss militärisch zu erweitern.

Bei den Kämpfen und Luftangriffen in der vergangenen Woche seien Dutzende Menschen getötet worden, meldet die Vertretung der Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien ­(DAANES). Darunter seien viele Frauen und Kinder. 80.000 Kur­d*in­nen sind lokalen Quellen zufolge bei kalten Temperaturen aufgebrochen, über den Fluss Euphrat in östliche Gebiete Rojavas zu fliehen. Kurdische Medien melden zudem gewalttätige Angriffe auf Kur­d*in­nen durch verschiedene islamistische Gruppierungen.

Für die Kur­d*in­nen ist das Projekt der demokratischen Selbstverwaltung gefährdet. „Diese Angriffe bedrohen nicht nur die Stabilität in Syrien, sondern verschärfen auch die humanitäre Krise“, sagte Kongra Star, ein Zusammenschluss von kurdischen Frauenorganisationen, am Mittwoch. Zuvor hatte die SNA den Kanton Schehba, nördlich von Aleppo, eingenommen. Dort lebten Kur­d*in­nen in Geflüchtetenlagern, nachdem die Türkei 2018 die Region Afrin völkerrechtswidrig besetzt hatte.

Symbol des Kampfes gegen den IS

Als türkische Streitkräfte und ihre syrischen Verbündeten damals die Kontrolle übernommen hatten, vertrieben sie die überwiegend kurdische Bevölkerung aus ihren Häusern. Nun müssen sie aus Schehba erneut fliehen. Insbesondere Frauen und Kinder lebten unter widrigen Bedingungen. Es gebe bisher wenig internationale humanitäre Hilfe in der Akutsituation, sagt Kongra Star.

Am Dienstag meldeten kurdische Quellen, die protürkischen Milizen seien auf dem Einmarsch in die Grenzstadt Kobanê. Dabei sind ein Kind und ein Erwachsener getötet worden, zwei Kinder wurden verletzt, meldet die kurdische Nachrichtenagentur ANF am Mittwoch. Kobanê war 2014 zum Symbol im Kampf gegen den sogenannten Islamischen Staat (IS) geworden, als kurdische Milizen, vor allem die Volksverteidigungseinheiten (YPG), die Stadt verteidigt hatten.

Die selbstgebildete syrische Übergangsregierung unter Führung der islamistischen Gruppe Haiat Tahrir al-Scham (HTS) hat sich bisher nicht geäußert, ob sie die kurdische Selbstverwaltung tolerieren wird.

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13 Kommentare

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  • Dieses dämliche Gezänk von ein paar wenigen Rassisten, Glaubensextremisten, politischen Ideologen, macht den meisten Menschen das Leben zur Hölle, ohne irgendeinen noch so kleinen sittlichen Nährwert zu haben, oder die Welt »besser« zu machen!



    Man sollte das ganze heißblütige Pack in ein Stadion sperren, und zuschauen, wie sie sich zur Abwechslung persönlich gegenseitig zerfleischen, anstatt hunderttausende andere für „ihre Ideologien“ zu opfern!



    Die allermeisten Menschen schaffen es, ohne diese Ideologisierung friedlich zusammenzuleben.



    - Osmanisches Reich



    - Habsburgerreich



    Es braucht nur einfach den Willen dazu!

    • @Wiesel:

      Sie nennen etwas: Geringnationalistische Reiche als eher tolerante Organisationsform (nicht ohne Herrschaftsvolk, aber überschaubar), die freilich beide vor 100 Jahren dem Nationalismus nicht standhielten. So wie das Heilige Römische Reich vom Ansturm der französischen Volkstruppen gefällt wurde.

      Ihr eher humanistischer erster Absatz und ihr traurig-aggressiver zweiter gehen für mich wenig zusammen. Menschen haben alle auch einen Glaubens- und Werte-Anteil in sich, manche stärker, manche weniger. Mit dem müssen wir dann wohl auch rechnen.

  • Es wird langsam Zeit, dass wir UN-Koalitionstruppen nach Syrien senden.

  • Wichtig hierbei ist, dass die aktuelle "SNA" nichts Wesentliches mit dem ursprünglichen Dachverband von Assad-Gegnern zu tun hat, sondern eine nach dem Zerfall der originalen SNA gegründete Retortentruppe Erdogans ist.

  • Türkischer Imperialismus. Unterstützt früher von Assad und Russland. Ethnische Säuberungen, Luftangriffe auf Zivilist*innen.

    Sollte doch eigentlich ein heißes Thema für taz Leser*innen sein, seit zwei Wochen schon. Ist es aber nicht gewesen.

    Ich finde ja, dass die EU und die NATO ihren Verbündeten Türkei dazu zwingen müssten hier mit ihren Einsätzen aufzuhören, bzw. eine internationale Schutztruppe einzusetzen, welche sichert, dass es keine PKK Vorstöße (PKK ist nicht YPG) in die Türkei gibt.

    Aber ebenso müsste der ICC einen Haftbefehl gegen Erdogan ausstellen, wegen Ethnischer Säuberungen. Oder ist das keine ethnische Säuberung und staatlichen Transfer von arabischen Muslimen in die Region?

    • @ToSten23:

      Das strategische und militärische Gewicht der Türkei ist von so hoher Bedeutung, dass sich die Rest-Nato und viele westliche Staaten ohne Nato-Mitgliedschaft "dazu lieber nicht" äußern!



      Politischer Pragmatismus, über den man in diesem Fall tatsächlich lange nachdenken kann!

      • @Wiesel:

        Mit dieser Lesung stimme ich 100% zu.

    • @ToSten23:

      Assad und Russland haben die Türkei offenkundig nicht bei der Besetzung syrischen Staatsgebiets unterstützt (dass man sich wohl oder übel damit abgefunden hat, war eher eine Einsicht in die realen Kräfteverhältnisse vor Ort).



      Warum der IStGH in diesem Fall keinen Haftbefehl ausgestellt hat, wurde eigentlich oft genug erklärt: weder die Türkei noch Syrien haben die entsprechenden Abkommen ratifiziert.

      • @O.F.:

        "Warum der IStGH in diesem Fall keinen Haftbefehl ausgestellt hat, wurde eigentlich oft genug erklärt: weder die Türkei noch Syrien haben die entsprechenden Abkommen ratifiziert."

        Das hat Israel auch nicht. Trotzdem wurden gegen Netanjahu und Galant Haftbefehle erlassen.

        • @Klabauta:

          Weil die mutmasslichen Verbrechen auf palästinensischem Territorium begangen wurden und Palästina die entsprechenden Abkommen ratifiziert hat (analog zu dem Haftbefehl gegen Putin, obwohl Russland - anders als die Ukraine - den IStGH nicht anerkennt).

    • @ToSten23:

      Außerhalb der taz doch auch kaum ein Thema, ein paar Kurzberichte in der ARD.



      Vorher war der "Feind meines Feindes mein Freund". Erdoğan stand gegen Assad und gegen IS (wobei das Letztgenannte nie so sicher war). Vor allem hat er in der nationaltürkischen Tradition schon kurz nach einem anfänglichen Tauwetter Kurden im In- und Ausland drangsaliert, statt sie zu gewinnen, wie Bayern oder Sorben auch nicht austreten wollen.







      Die Armee, Drohnen und die strategische Lage der Türkei gegenüber dem Kriegsgebiet in der Ukraine machten Verhalten und wirtschaftliche Gebrechlichkeit eher vergessen, doch niemand bleibt blind.

      Nur mit dem ICC wird es nicht trivial, denn weder Syrien noch die Türkei haben das etwas unterzeichnet (Palästina hatte). Kurdische Selbstverwaltungen sind für den ICC keine Staaten.

      • @Janix:

        "Kurdische Selbstverwaltungen sind für den ICC keine Staaten."

        Warum wird die Anerkennung nicht gefordert? Das würde doch nach aktueller ICC Praxis ermöglichen sowohl gegen Erdogan als auch gegen Assad/HTS vorzugehen, jedenfalls dann, wenn diese nach Beitritt Völkerrecht in den Augen des ICC brechen.

        Da weder Gaza noch Judea und Samaria, noch die West Bank palästinensische Staaten sind, aber der ICC dennoch akzeptiert, dass die Rechtsgewalt mit Beitritt in die römischen Verträge auf den ICC übergeht (was rechtlich fragwürdig ist), dann müsste so etwas auch für "kurdische" (falsch, weil pluralistisch) Gebiete möglich sein.

        Die Autonome Administration von Nord- und Ostsyrien möchte zur Zeit zwar kein Staat sein, aber vielleicht reicht ein Teil der diesen Anspruch stellt um vom ICC gehört zu werden.

        • @ToSten23:

          Nun müssen Sie die kurdische Selbstverwaltung fragen, warum sie keinen entsprechenden Antrag stellt; ich verweise aber gerne auf einen entscheidenden Unterschied: das Territorium, das sie derzeit kontrolliert, ist syrisches Staatsgebiet - man müsste also ein (höchst umstrittenes) Sezessionsrecht anerkennen, um über einen kurdischen Staat zu sprechen; der - mittlerweile von einer Mehrheit der UN-Mitglieder anerkannte - Staat Palästina verfügt über eigenes Territorium, wenngleich dieses derzeit von Israel besetzt ist. Beide Fälle sind also kaum miteinander zu vergleichen.