Umgestaltung des Schulsystems: Indien reformiert Bildungswesen
Das indische Bildungssystem braucht Reformen. Doch in der Pandemie beschließt die Regierung eine Richtlinie, die Ungleichheit verstärken könnte.
Für die älteren Jahrgänge soll es wohl im neuen Jahr wieder losgehen. Im krisengeschüttelten Gebiet Jammu und Kaschmir gibt es manchmal Unterricht im Freien, andernorts laufen engagierte Lehrer:innen Wohnhäuser ab, um Kinder gelegentlich zu unterrichten. Wieder andere versuchen, den Unterricht online zu gestalten.
Vielerorts hatte die Pandemie den Alltag fest im Griff, als das indische Kabinett am 29. Juli eine Neuausrichtung der Bildungspolitik mit dem Namen „National Education Policy“ (NEP) billigte. Nach 34 Jahren soll das Schulsystem grundlegend umgestaltet werden: Bildungsabschnitte werden neu gegliedert, die Vorschulzeit beginnt für Kinder dann bereits ab drei Jahren.
Prüfungsrelevante Anforderungen sollen landesweit und zentral vereinheitlicht werden. Vorgesehen ist außerdem, dass der Unterricht bis zur fünften Klasse in Regional- und Muttersprachen anstatt auf Englisch stattfindet. „Wir stellen fest, dass Englisch nicht die internationale Sprache geworden ist, wie man es in den 1960er Jahren erwartet hatte“, heißt es in einem Auszug des NEP zur Begründung.
Geplant sind weiterhin die Öffnung der Hochschulbildung für ausländische Universitäten sowie Änderungen bei Hochschulabschlüssen. So wird etwa der Abschluss Master of Philosophy, vergleichbar mit einem Magister, nicht weitergeführt. Damit hat sich die Zeit für Doktorand:innen um zwei Jahre verkürzt, bis sie die Eignungsprüfung zur Promotion ablegen können. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die Reform bis 2040 umzusetzen.
Noch wird die Debatte um die Auswirkungen der umfangreichen Neuausrichtung nur am Rande geführt, viele Lehrer:innen und Eltern haben sich bisher wenig mit der Reform befasst. Doch schon jetzt ist klar: Obwohl Reformen notwendig sind, wie etwa bei der Lehrerausbildung, die die NEP ebenfalls umfasst, begrüßen nicht alle die bevorstehenden Änderungen. Kritiker:innen befürchten, dass die Zentralregierung im neuen System die Lehrinhalte bestimmen wird und sich soziale Ungleichheit verstärkt.
„Die neue Politik hat kein Verantwortungsbewusstsein gegenüber Kindern, Gleichheitsanspruch, Integration oder Qualität“, sorgt sich etwa Anita Rampal, Professorin und ehemalige Dekanin der Fakultät für Erziehungswissenschaften an der Universität Delhi. Die öffentlichen Schulen hätten damit zu kämpfen, dass sie oftmals keinen guten Ruf genießen und Privatschulen mit günstigen Schulgebühren aggressiv vorangetrieben werden, erklärte sie gegenüber der Nachrichtenseite IndiaSpend.
Bei geringerer Nachfrage an staatlichen Schulen, an denen Kinder kostenloses Mittagessen, Bücher und Uniformen erhalten, kann der Staat Kosten reduzieren. Rampal sieht das Recht auf Bildung in Gefahr: Mit der Reform werde nur der private Bildungsbereich weiter zunehmen, den sich nicht jeder leisten kann.
Privater Bildungsmarkt wächst rasant
Fast jede:r zweite der 260 Millionen Schüler:innen in Indien besucht bereits jetzt eine private Schule. Sie verlangen teilweise nur niedrige Gebühren und sind angesehener als die öffentlichen. Doch auch Privatschüler:innen haben oft Schwierigkeiten beim Lesen oder Rechnen. Viele Kinder – aller Klassenstufen und aus verschiedensten Familienverhältnissen – gehen nach der Schule zur Vorbereitung auf die Jahresabschlussprüfung zur Nachhilfe. Der private Bildungsmarkt wächst rasant.
Gleichzeitig wurde seit 2014, als die hindu-nationalistische BJP-Regierung die Wahlen gewann, am Bildungssystem gespart. Mit der Reform gab die Regierung erstmals eine Anhebung der Bildungsausgaben bekannt.
Auch Pater Frazer Mascarenhas, der zwölf Jahre lang Rektor des angesehenen Mumbaier College St. Xavier’s war und derzeit am jesuitischen St. Stanislaus College in Mumbai tätig ist, fürchtet, dass die National Education Policy die Bildungschancen ärmerer Kinder verschlechtert. Er hat sich mit seinen Kollegen über die Reform ausgetauscht – und ein eindeutiges Fazit gezogen: Mit der neuen Bildungspolitik ist er „überhaupt nicht zufrieden“.
Es sei eine immense Aufgabe, die geplanten Änderungen umzusetzen – was die Privatisierung des Bildungswesens weiter vorantreiben werde. Diese Entwicklung zeichne sich bereits in anderen Bereichen wie Gesundheit, Telekommunikation oder Landwirtschaft in Indien ab. „Das wird den ärmeren Menschen im Land viele Probleme bereiten“, fürchtet der Pater. „Vielleicht wird eine kleine Gruppe der oberen Mittelschicht davon profitieren“, sagt er, „aber nicht die Mehrheit.“
Autonomie der Schulen eingeschränkt
Der Pater kritisiert auch, dass die Zentralregierung nun stärker in die Bildungspolitik der Bundesstaaten und die Autonomie der Schulen eingreift. Bei der Reform handele es sich um eine Art Übernahme aller Schulen und Hochschulen, was einer Form der Verstaatlichung und starken Zentralisierung des Bildungssystems gleichkommt, warnt er.
Bisher waren etwa Schulen für religiöse und ethnische Minderheiten in ihrer Unterrichtsgestaltung recht frei, solange der vom Staat vorgeschriebene Rahmenlehrplan eingehalten und Schüler:innen bei den jährlichen Prüfungen gut abgeschnitten haben, erklärt Frazer Mascarenhas. Jetzt würden Bundesstaaten wie Schulen stark in ihrer Mitgestaltung eingeschränkt. Die gesamte Verwaltung werde bald von der Regierung übernommen, kritisiert er. Das sei aufgrund der kulturellen, geschichtlichen wie sprachlichen Vielfalt Indiens nicht angemessen.
Sunil Bhaskar Patil, Leiter einer örtlichen Grundschule in Mumbai, hat Verständnis für die Ambitionen des Premierministers: „Er hat eine Vision für das indische Bildungssystem.“ Dennoch denke er, „dass Altbewährtes hier besser wäre“ und bedauert die Einschränkung der Mitsprache bei Lerninhalten. Hingegen begrüßt der Schulleiter, dass handwerkliche Fähigkeiten oder Sport gestärkt werden sollen.
Neben der Vereinheitlichung des Lehrplans sieht die neue nationale Bildungspolitik vor, Unterricht verstärkt in Regionalsprachen abzuhalten. Auch dies ist umstritten. Kritiker:innen bemängeln, dass gerade Kinder aus benachteiligten Verhältnissen abgehängt werden, wenn der Englischunterricht gestrichen wird: Für sie schwinden damit die Chancen auf eine höhere Bildung. Genug aufzuholen, um auf ein College zu kommen und später einen der begehrten Berufe auszuüben, sei fast nicht mehr möglich, weiß Pater Frazer Mascarenhas.
Englisch als Voraussetzung für spätere Berufschancen
Denn zumindest formal findet die gesamte höhere Bildung in Indien auf Englisch statt. Auch Eltern, die beruflich oft umziehen, sehen darin Nachteile, wenn Grundschulen flächendeckend auf lokale Sprachen umsatteln. Umgekehrt könnte es für viele kleinere Schulen angesichts starker Binnenmigration zum Problem werden, wenn Schüler:innen das Recht auf Unterricht in ihrer Muttersprache hätten.
Vijaya Yewle hat ihren Sohn Agastya an einer englischsprachigen Schule in Mumbai angemeldet. Die meisten Fächer werden auf Englisch unterrichtet, manchmal gibt es noch Anweisungen auf Marathi, einer der lokalen Sprachen Mumbais. Zu Hause spricht die Familie hauptsächlich Marathi, deshalb ist es für Agastya nicht immer leicht, den Unterricht zu verstehen.
Yewle ist dennoch sicher, die richtige Wahl für ihren Sohn getroffen zu haben: „Meine eigene Ausbildung fand in Marathi statt“, erklärt sie, „Ich habe das Gefühl, dass ich viele Chancen im Leben verpasst habe, weil ich nicht fließend Englisch spreche, und in dieser wettbewerbsorientierten Zeit ist Englisch einfach ein Vorteil.“
Viele Pädagogen wie Sunil Bhaskar Patil sind hingegen der Meinung, dass der Grundschulunterricht in der Muttersprache oder in der lokalen Sprache stattfinden sollte, so wie auch die neue Empfehlung im Zuge von NEP lautet. „Die Muttersprache hilft den Schülern, Konzepte besser zu verstehen“, erklärt der 49-Jährige.
Hindu-nationalistischer Regierungskurs
Doch den Unterricht verstärkt in den vorherrschenden Regionalsprachen abzuhalten, das wird de facto heißen: Den Unterricht in Hindi auszubauen. Hindi ist die am weitesten verbreitete der 22 anerkannten Sprachen in Indien. Englisch dient bislang als Verkehrssprache auf dem Subkontinent, vor allem zwischen Norden und Süden. Versuche der Regierung, Hindi im Zuge ihres hindu-nationalistischen Kurses als Unterrichtssprache zu etablieren, wurden bisher vor allem in den südlichen Bundesstaaten zurückgewiesen: Etwa 200 Millionen Inder:innen im Süden bevorzugen Englisch als Zweitsprache.
Unabhängig davon gibt es in allen Regionen Indiens Minderheitenschulen. So unterrichten muslimische Schulen vor allem auf Urdu, christliche auf Englisch, weitere Unterrichtssprachen sind Sindhi, Gujarati oder Telugu. Pater Frazer Mascarenhas befürchtet, dass insbesondere diese Einrichtungen ihre Autonomie einbüßen müssen – was auch bedeuten könnte, dass beispielsweise die Sprachen von regionalen Minderheiten weniger im Unterricht verwendet werden.
An der Regierung prallt die Kritik an ihrer „Vision des neuen indischen Bildungssystems“ allerdings ab. Wie die genaue Ausgestaltung der neuen Lehrpläne und deren Umsetzung aussehen könnte, soll im neuen Jahr bekanntgegeben werden. Dann werden vielleicht auch Rektor Patil, Frazer Mascarenhas und der kleine Agastya wissen, was sich für sie ändern wird.
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