Umgang mit Zweitem Weltkrieg in der DDR: Unterm Gras die Knochen
Der Krieg war vorüber. Eltern und Kinder misstrauten sich wie Fremde. Wieder jagten die Jungs mit den Hakenkreuzen Menschen. Nichts war vorbei.
D ie Schriftstellerin Manja Präkels, 1974 in Brandenburg geboren, erlebt den Umgang mit dem Zweiten Weltkrieg in der DDR. Sie erinnert sich an unerlaubte Fragen an den Großvater, KZ-Witze und an sehr viel Stille.
Der Krieg schmeckte nach dem abgeknabberten Ende meines Bleistifts. Dafür gab es Stubenarrest, weil man die Dinge achten soll. Auch den Bleistift. Kauend hatte ich im Geschichtsunterricht hinten links in der letzten Reihe gesessen und mich in der Betrachtung des Zeitstrahls verloren. Urgesellschaft. Sklavenhaltergesellschaft. Schritt für Schritt ins Paradies. Das Vorwärtskommen schmerzhaft. Verlustreich. Im Kampf. Im Krieg.
Draußen, auf dem Schulhof, quälte sich ein älterer Jahrgang Runde um Runde durch die Sommerhitze immer um den Fahnenmast herum. Man konnte gar nicht hinschauen, so schwitzten sie unter ihren Gasmasken. Würden wir alle für immer Soldaten sein?
Opa war desertiert. Entkommen. Mit Glück. Er wusste genau, wo er die anderen zum letzten Mal gesehen hatte. Halbwüchsige Hitlerfans, wie er einer gewesen war. Beim „Volkssturm“. Viele Jahre lang fuhr er immer wieder hin. Immer am selben Tag. Zu der Scheune, in der sie dem Todesmarsch begegnet waren, den ausgemergelten, erniedrigten Frauen. Zu der Scheune, in der er damals einem lebensentscheidenden Impuls gefolgt war. Jedes Mal hatte er gehofft, jemanden zu treffen. Vergeblich.
Die, die auf Gräber der Sowjetsoldaten pissten
Einmal habe ich ihn direkt gefragt, am Kaffeetisch, an meinem Geburtstag: „Opa, wo bist du eigentlich im Krieg gewesen?“ Starres Entsetzen bei Eltern, Onkels, Tanten. Wie konnte ich bloß! Opa aber schaute nur kurz auf und redete los. Wollte gar nicht mehr aufhören. Nichts war für ihn vorbei. Gar nichts. So wenig wie für mich.
In den Kinderzimmern der Nachbarschaft flimmerten wieder die alten Wochenschauen. Freundinnen verliebten sich in Jungs mit Hakenkreuz-Tattoos, die nachts Menschen durch die Innenstadt jagten, tagsüber auf die Gräber der Sowjetsoldaten pissten. Ich fragte mich, wer wir geworden waren. Warum?
Eine frühe Erinnerung: Reifen auf Asphalt. Fahrräder über Fahrräder und doch keine Friedensfahrt. Ich sitze vorn, im Kinderkorb. Mit Übersicht. Die Mutter steuert uns durch die Menge der Werktätigen, die aus allen Teilen der Stadt zur Arbeit strömen. Der helle Klang der Klingeln, die kurz anschlagen, wo immer eine Unebenheit die Straße prägt, dazwischen Raucherhusten, leise Grüße. Ich friere. Das liegt daran, dass ich noch gar nicht wach bin.
Dann Salutschüsse. Alle Räder stehen still. Tauben steigen in den blauen Himmel. Wir sind eine Demonstration. Wir alle, auch die Kinder. Hoch die rote Fahne. Es muss ein erster Mai sein. Kampftag. Aber gegen wen? Mutter steht jetzt ganz vorn in ihrer Uniform. Unter der Fahne. Ich kann sie nicht erreichen. Sie ist jemand anderes, sieht mich nicht. Nur den Himmel und die Fahnen, und ob auch alle Kinder tun, was sie von ihnen verlangt. Ich gehöre nicht dazu. Noch nicht.
Meine Kindheit war wie Erde in Mund, Ohren und Nase. Eine Welt aus Geheimnissen von Erwachsenen. Eine Welt, in der du nichts verstehst, dein Wort nichts gilt. Eine Welt, in der Höllengestalten wie Jummiohr den Weg wiesen. Jummiohr, der aus dem Krieg, von dem alle so laut schwiegen, dass er stets allgegenwärtig blieb, mit einem Ohr weniger zurückgekehrt war. Starr nicht hin, Kind. Das war der Krieg. Und die Sowjetsoldaten hatten im Wald ihre eigene Stadt. Wegen des Krieges. Manchmal konnten wir Schüsse hören. Furcht spüren. Halt den Mund Kind, das verstehst du nicht.
Omi ist das piepegal, ob einer versteht. Sie erzählt gern Geschichten. Ich mag es, mich zu gruseln. Und ihr Vorrat scheint unerschöpflich zu sein. Wenn sie von früher spricht, ist es immer Winter. Immer Krieg. Und sie weint dabei, sagt „Russen“ und meint Sowjetsoldaten. Ihre Freundin wollte danach nicht mehr leben. Nach den Russen. Aber das verstehe ich ja noch nicht. Sagt sie und redet weiter. Nächste Geschichte: In den Trümmern, die sich bis zum Himmel türmten, wurden junge Rotarmisten in Fallen gelockt, und am nächsten Tag gab es endlich wieder Fleisch. Verstehe ich auch nicht. Nächste Geschichte. Erzähl noch mal die mit dem erfrorenen Pferd.
Ein greller Erinnerungsfetzen: Am Ehrenfriedhof, dicht bei den Gräbern, hocke ich und halte nach einem bekannten Gesicht Ausschau. Nach jemandem zum Spielen. Ich stochere mit einem Stöckchen im Gras, stoße auf etwas Helles, Ungewöhnliches. Als ich die obere Schicht durchstoße, schlägt mir ein so übler Gestank entgegen, dass ich mich fast übergeben muss. Mit zugehaltener Nase inspiziere ich die Stelle erneut. Tausende kleiner Maden wimmeln in alle Richtungen durchs Gras. Mein Schreien weckt die Hunde aus dem Mittagsschlaf. Ihr lautes Gebell begleitet meine Gewissheit, einen der Toten ausgegraben zu haben.
Später, auf dem Schulhof: KZ-Witze. Das Lager Ravensbrück liegt ganz in der Nähe. Man fährt nur hin, wenn man muss. Wer hat Angst vorm Schwarzen Mann? Kein Kinderspiel. Sie jagen wieder. Aufgehetzte Schreie fordern, „die Kohlen“ in den Fluss zu werfen. Ich ducke mich. Wie alle anderen. Und kann es nicht vergessen. Vergessen. Vererbt sich das? Die allermeisten können es doch sehr gut. Erinnern sich weder an die Angstschreie noch an das, was zuvor oder später geschah.
Die aber, die sich erinnern können, die treffen sich. Auf den Bahnhöfen Osteuropas. In Antiquariaten. Auf Flohmärkten. Sie durchstreifen Gassen und Markthallen, vertrauten Gerüchen hinterherjagend. Fahren Jahr für Jahr an den alten Ort und hoffen, es kommt einer zurück. So wie Opa.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es sind die Sonntage, die bleiben. Wenn die Arbeit ruhte, die Mutter mich nicht vor Sonnenaufgang weckte und durch die Kälte zum Kindergarten fuhr, wo gegessen wurde, was auf den Tisch kam. Die Tage, an denen Vater den Gemüseladen geschlossen halten und einfach liegen bleiben konnte. Meine älteren Cousins reparieren mit ernsten Mienen ein Moped im Hof. Und ich bin frei. Darf alleine raus, denn der Hund ist ja bei mir.
Menschen lächeln über Fensterbänke hinweg. Es fährt kein Auto. Nur das Pferdegespann des alten Fuhrunternehmers, der niemals frei hat, erschüttert die Ruhe mit Hufgeklapper. Im Rotdorn piepen Vögel. Die Angler am Fluss lassen mich bei sich sitzen. Aber nur, wenn der Hund still ist. Ein Militärkonvoi der Roten Armee überquert die Brücke, unter der wir sitzen. Der Beton vibriert. Verächtliches Ausspucken. Geballte Fäuste. Der Hund will nach Hause. Zu Oma.
Mit dem Schulbeginn kam die Pflicht. Kam der Zeitstrahl. Aufgaben pflasterten den Weg in eine glorreiche Zukunft, die man sich als Kind höchstens als fernen Planeten vorstellen kann. Wir marschierten über frisch abgeerntete Rübenfelder, warfen Handgranaten im Sportunterricht und sangen Lieder, die ein Morgen beschworen, an das kein Erwachsener mehr glaubte.
Bis auf die Musiklehrerin vielleicht. Und die Mutter natürlich. Die Tränen der alten Kommunisten in den Klubs der Volkssolidarität galten ihren Erinnerungen und Träumen aus anderen Zeiten, die wir singend beflügelten: „O lasset uns im Leben bleiben, weil jeden Tag ein Tag beginnt. O wollt sie nicht zu früh vertreiben, alle, die lebendig sind.“
Wenn sie von Lagern und Widerstand erzählten, konnten wir den Krieg fühlen. Den Stacheldraht. Die Angst. Manchmal spielten wir ihn auch nach. An den Gepettos. Einem alten Ehepaar, das aufgrund des fremd klingenden Namens, seiner ärmlichen Behausung und des zurückgezogenen Lebens die missbilligende Neugier der Provinzbewohner auf sich zog, sodass wir Kinder straffrei unsere makabren Späße mit ihnen treiben konnten. Kleine Vollstrecker. Wir warfen Steine auf die hölzernen Fensterläden. Wenn der Alte dann, vor Empörung und Angst zitternd, hinaustrat, lachten wir. Gemein und skrupellos. Am Abendbrottisch wurde uns meist verziehen. Wer war nicht mit solchen Scherzen aufgewachsen? Als gelte es, eine Grundhärte zu erlernen. Mitgefühl zu verlieren.
Manöver Schneeflocke. Ein Gewaltmarsch, sagen sie. Der Wind dringt durch alle Kleidungsschichten. Es fällt schwer, den Kompass zu halten. Wir kriechen durch das Dickicht. Klettern auf Bäume. Bestimmen Pflanzen und folgen einer Spur. Wir sind die Guten, klar. Der Feind sind die anderen. Die, die nicht wir sind. Bevor die verkochten Erbsen mit Schwung in der Schüssel landen, muss gesungen werden. Laut und siegesgewiss.
1989. Die Republik wird 40. Unsere Jugendweihe, das Einschwören auf den Staat, steht an. Wir wirken verloren auf den Fotos von damals. Eingeschüchtert. Keine Kosmonauten eines besseren Morgen. Zurückgebliebene. Das Geschichtsbuch, das ich nach den Sommerferien in den Händen halte, ist der Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus gewidmet.
Es endet mit der Gründung der DDR. Doch bevor wir so weit sind, bricht die Mauer. Mit ihr die Welt. Was geschieht, ist nicht zu begreifen. Die unheimlichen Beschleunigungskräfte saugen Zombieraserei aus dem Pflaster, den Ritzen der Dachböden und Geheimverstecken in Kellern.
Der Krieg – eben noch eingeschlossen in den Knochen der Alten – scheint wieder hervorzubrechen. Aus unseren jungen Körpern. Einige werden sich Hakenkreuze auf die Hände stechen lassen. Werden brandschatzen und morden. Andere, wie ich, suchen in den Partisanenromanen nach Verbündeten.
Und wieder andere werden ganz schnell erwachsen, ziehen gen Westen. In eine neue glorreiche Zukunft. Auf einen anderen fernen Planeten. Wir werden uns später kaum wiedererkennen. Die, die hinausgingen, und jene, die immer dageblieben sind. Über unseren Krieg sprechen wir nicht. So wenig wie die Alten über ihren. Und die Welt dreht sich einfach weiter, ganz ohne Zeitstrahl.
„Die Fahne hoch. Die Reihen fest geschlossen.“ Sie singen das laut und siegesgewiss. Die Fußballer der Stadt. Es ist nicht zu überhören und wird dennoch überhört. Im Nachbarort das gleiche Spiel. Als sich eine Anwohnerin beschwert, errichtet der Verein eine Schallschutzwand zwischen ihrem Haus und dem Fußballplatz. Weitersingen, Männer!
Beim Familiengeburtstag lässt ein satirisches Lied Friedrich Hollaenders, er hatte es 1931 für eine Berliner Kabarettbühne geschrieben, die Gäste am Kaffeetisch erblassen. Der Damenchor singt:
„An allem sind die Juden schuld!Die Juden sind an allem schuld!Wieso, warum sind sie dran schuld?Kind, das verstehst du nicht, sie sind dran schuld.“
Nach Sekunden entsetzter Stille bricht Gelächter los. Auf dem Heimweg wird mir klar, dass, solang ich denken kann, noch nie das Wort Jude in dieser Runde gefallen ist. Es wird verschluckt, so wie ein Kind Schimpfworte, die es gelernt hat, in Anwesenheit seiner Eltern verschluckt. Gäbe es einen Platz für verbotene Wörter, stünde das Wort Rassismus nicht fern.
Immer die Angst, etwas Falsches zu sagen. Denken, dass das verboten sei. Jene bewundern, die die „Wahrheit“ aussprechen. Die Platte hat einen Sprung. Krieg beginnt im Kopf. Seine Verheerungen prägen die Gedanken und Gefühle der Menschen über Generationen hinweg. Es ist schwer, dafür eine Sprache zu finden, die niemanden ausschließt. Viel schwerer, als Ruinen wieder zu errichten, Innenstädte in Pastellfarben anzustreichen und Gedenktafeln einzuweihen.
Ende der 90er legen Schülerinnen und Schüler den jüdischen Friedhof in meiner Heimatstadt frei. Sie machen sich mit ihren Lehrern auf Spurensuche. Kurz darauf wird der Friedhof von anderen Kindern der Stadt geschändet. Wieder aufgebaut. Unter Denkmalschutz gestellt. Der Ort ist nicht frei begehbar. Ein Schlüssel zur Besichtigung liegt im Fremdenverkehrsbüro.
„Vorsichtig und verschlossen sind Väter, Mütter und Kinder im Dritten Reich. Meist leben sie nebeneinander her wie Fremde oder wie Feinde“, schreibt Erika Mann in ihrem Buch „Zehn Millionen Kinder“, das sie über Erziehung im Nationalsozialismus verfasste. Offensichtlich war die DDR ein Ort, der solcherlei Misstrauen noch zu vertiefen vermochte. Offenbar ist bis heute nichts vergangen. Auch wenn der Zeitstrahl längst auf dem Müll gelandet ist. Der Kampf um Deutungshoheiten bestimmt die Gespräche beim Bäcker. Alle wollen recht behalten. Einigkeit herrscht nur im Pessimismus. Unter jedem Dach ein Ach?
2019. Opas 90. Geburtstag. Mit großer Gelassenheit sitzt er inmitten der Kinder, Enkel und Urenkel. Er lacht viel. Genießt die Sonne und Gesellschaft. Nach wie vor geht eine große Lebendigkeit von ihm aus, allen Verlusten und Katastrophen zum Trotz. Er nennt die Dinge beim Namen, pflegt seine Geheimnisse und freut sich noch immer jedes Jahr auf den Mai: „Das ist die beste Zeit.“ Die Band spielt „Capri Fischer“.
Dieser Text erscheint voraussichtlich Ende Mai in der Publikation „Krieg und Frieden – 1945 und die Folgen in Brandenburg“, L&H Verlag Berlin Thies Schröder e. K..
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Interner Zwist bei Springer
Musk spaltet die „Welt“
Nach dem Anschlag von Magdeburg
Wenn Warnungen verhallen
Deutsche Konjunkturflaute
Schwarze Nullkommanull
BSW-Anfrage zu Renten
16 Millionen Arbeitnehmern droht Rente unter 1.200 Euro
Psychiater über Kinder und Mediennutzung
„Die Dinos bleiben schon lange im Schrank“
Kaputte Untersee-Datenkabel in Ostsee
Marineaufgebot gegen Saboteure