Umgang mit Hausbesetzungen: Der Fall der Berliner Linie
Die Pfingst-Besetzungen setzen den Berliner Senat unter Druck. Kippt jetzt die Vorgabe, Häuser binnen 24 Stunden zu räumen?
Noch deutlicher fällt das Urteil der WählerInnen von Rot-Rot-Grün aus. Statt unmittelbar räumen zu lassen, bevorzugen sie den Weg des Dialogs. Besetzungen sollen zunächst geduldet, mit den BesetzerInnen verhandelt werden. Das fordern 64 Prozent der WählerInnen der Linken, 63 Prozent jener der Grünen und 45 Prozent der AnhängerInnen der SPD.
Der Senat wird nicht umhinkommen, dies mit einzubeziehen, wenn er sich auf den künftigen Umgang mit Besetzungen verständigt. Ursprünglich sollte sich der rot-rot-grüne Koalitionsausschuss bereits an diesem Dienstag mit der Thematik befassen, nun ist der Termin noch einmal verschoben.
Aus dem Hause der Stadtentwicklungssenatorin Katrin Lompscher (Linke) heißt es dennoch, es sei klar, dass das Thema Besetzung bald auf der Tagesordnung stehen werde. Die Frage, die auf dem Tisch liegt: Soll die Berliner Linie abgeschafft bzw. modifiziert werden oder hält man fest an dem Modell, ein politisches Problem auf die Polizei abzuwälzen?
Das ist die Berliner Linie
Innerhalb von 24 Stunden nach Bekanntwerden einer Besetzung soll eine Räumung erfolgen, so besagt es die Berliner Linie bisher. Die Regelung ist nicht in Stein gemeißelt, kein Gesetz, sondern hat den Charakter einer verwaltungsinternen Empfehlung. Sie erschwert aber jene Offenheit, die sich viele BerlinerInnen wünschen. Auch weil selbst landeseigene Wohnungsbaugesellschaften die Polizei zur Räumung rufen.
So zuletzt geschehen vor zwei Wochen am Pfingstsonntag, als AktivistInnen ein leer stehendes Wohnhaus in der Neuköllner Bornsdorfer Straße besetzt hatten. Verhandelt wurde zwar, letztlich aber stellte der Geschäftsführer der Wohnungsbaugesellschaft Stadt & Land einen Strafantrag. Die Polizei holte 56 BesetzerInnen aus dem Haus.
Auf Anfrage teilte sie mit, dass sie keine „starre 24-Stunden-Frist“ praktiziere, sie aus einer Räumungspflicht aber erst entlassen sei, „wenn feststeht, dass ein Strafantrag nicht mehr gestellt wird oder nicht mehr wirksam gestellt werden kann“.
Was wie ein rein repressives Instrument daherkommt, war bei seiner Installierung 1981 durchaus progressiv gemeint. Die vom damaligen Regierenden Bürgermeister Hans-Jochen Vogel (SPD) formulierte Berliner Linie war eine Reaktion auf eine Besetzungswelle, im Zuge deren etwa 165 Häuser in Westberlin besetzt worden waren. Sie beinhaltete zwar die 24-Stunden-Regel gegen Neubesetzungen, sollte aber bereits besetzte Häuser auch schützen. Diese sollten nur dann geräumt werden, wenn die Eigentümer Strafanträge stellen und eine zügige Sanierung zusichern. Für 105 Häuser führte das zu einer Legalisierung.
Der großzügige Teil der Berliner Linie, die vom damaligen Senat auch als „Berliner Linie der Vernunft“ bezeichnet wurde, kam nur noch ein zweites Mal zur Anwendung: in der Zeit zwischen Mauerfall und Wiedervereinigung, als in Ostberlin mehr als 100 Häuser besetzt wurden. Damals beschloss der Senat, die Berliner Linie ab dem Stichtag 24. Juli 1990 im Osten der Stadt umzusetzen. Allen bis dahin besetzten Häusern sollten Verträge angeboten werden.
Druck auf die Räumungsbefürworter
Weil es seitdem nicht mehr zu Massenbesetzungen kam, ist nur noch der repressive Teil der Linie übrig geblieben: die schnelle Räumung. Doch dieses Vorgehen ist auch innerhalb der Regierungsparteien nicht mehr mehrheitsfähig. Die Befürworter der Räumungspolitik, Bürgermeister Michael Müller und Innensenator Andreas Geisel (beide SPD), stehen unter Druck.
Zwei Tage nach der beendeten Besetzung in Neukölln fasste der Landesvorstand der Berliner Linken einen einstimmigen Beschluss: „Die Räumungen waren falsch.“ Eindeutig positionierte sich die Partei gegen die Berliner Linie: Dass Innensenator Geisel auf dieser bestanden habe, „hat die Bemühungen der Vertreter*innen der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Wohnen torpediert und eine nachhaltige Lösung verhindert, die zu diesem Zeitpunkt bereits in greifbarer Nähe schien“. Linken-Staatssekretär Sebastian Scheel hatte vor Ort mit den BesetzerInnen verhandelt und fordert, dass die Wohnungsbaugesellschaft und die AktivistInnen an den Verhandlungstisch zurückkehren.
Katalin Gennburg, Stadtentwicklungsexpertin der Linksfraktion, fordert eine „neue Berliner Linie der Vernunft“ und die Entkriminalisierung von Besetzungen. Ähnlich äußerte sich die wohnungspolitische Sprecherin der Grünen-Fraktion, Katrin Schmidberger.
Murrende SPD
Am Samstag beschloss der SPD-Landesparteitag: „Die Kritik der Besetzer*innen an der aktuellen Situation auf dem Wohnungsmarkt teilen wir.“ Und weiter: „Spekulativer Leerstand, die Umwandlung in Eigentumswohnungen oder Scheinsanierungen auf Kosten der Mieter*innen zeigen, dass die Politik viel zu lange eine wachsende Stadt gefeiert hat, ohne die richtigen Weichen gestellt zu haben.“
Der ehemalige Stadtentwicklungssenator Michael Müller, der mit einem miserablen Ergebnis bei der Wahl zum Landesvorsitzenden abgestraft wurde, darf das durchaus als Kritik begreifen. Müller selbst sagte: „Wir können nicht Polizei und Innensenator alleine lassen, weil uns das Anliegen sympathisch ist und deshalb die Berliner Linie infrage stellen. Klar ist, Rechtsbruch ist Rechtsbruch.“
Das sehen viele anders, am ehesten die AktivistInnen der #besetzen-Kampagne selbst. Sie enterten während des Parteitages die Bühne. Auf ihrem Transparent forderten sie: „Strafanträge fallen lassen“. Vielleicht bringen sie auch die Berliner Linie zu Fall.
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