Umgang mit Erinnerungskultur: Eine Utopie der Erinnerung
Das Gedenken an die Shoah ist oft ritualisiertes Gedächtnistheater. Es sollte jedoch ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher Ereignisse sein.
A m 10. Juli 2021 ist Esther Bejarano im Alter von 96 Jahren verstorben. Sie überlebte das Vernichtungslager Auschwitz als junge Frau und kämpfte seitdem gegen Faschismus und Rassismus – stets an der Seite von Betroffenen rechter und neonazistischer Gewalt in der Bundesrepublik Deutschland.
Sie verstand es, die Kontinuitäten und Nachwirkungen des Nationalsozialismus und der Shoah in der Gegenwart immer wieder hervorzuheben, zu kritisieren und zu bekämpfen. Dabei zögerte sie nicht, ihre Geschichte als Überlebende von Auschwitz mit den Perspektiven von Überlebenden von neonazistischer Gewalt der Gegenwart zu verbinden.
Die gesellschaftliche Erinnerung an die Shoah geht auf diese jahrzehntelangen Kämpfe von Überlebenden, ehemaligen Exilant:innen und Aktivist:innen zurück. Zugleich haben diese Kämpfe stets über eine staatlich-offizielle Erinnerungskultur hinausgewiesen.
Denn in jedem Konflikt um eine Gedenktafel, um einen Gedenkkranz, einen Gedenktag oder um eine Straßenumbenennung ging (und geht) es immer auch darum, den gesellschaftlichen Status quo der postnationalsozialistischen Gegenwart zu kritisieren. Überlebende waren nie die passiven Opfer, zu denen sie in manch einer Gedenkstunde gemacht werden. Sie waren und sind die Zeug:innen des Geschehenen, handelnde Akteure der Gesellschaft und Kämpfer:innen um Gerechtigkeit und um eine bessere Welt, wie man an Bejarano und vielen anderen Überlebenden immer sehen konnte.
In den letzten Jahren hat sich auch die Erinnerung an die rassistische und antisemitische Gewalt nach 1945 in diese Erinnerungskultur eingeschrieben. Die Verbindung von Nationalsozialismus und postnazistischer Gewalt ist dabei nicht bloß eine rhetorische Bezugnahme, sondern zugleich politische Analyse der historischen Kontinuitäten. Die Erinnerungen daran gehören zusammen, weil auch die Taten in einem historischen Zusammenhang stehen.
Diese Erinnerungspraxis verweist auf die Diskrepanz zwischen dem staatlich gepflegten Selbstbild der geläuterten Nation und der gesellschaftlichen Realität der kontinuierlichen Gewalt gegen die „anderen“. Sie setzt die konkrete Benennung von Taten, Täter:innen und Strukturen gegen das Erstaunen nach neonazistischen Anschlägen, dass „so etwas in Deutschland nochmal möglich ist“.
Keine Statistenrolle
Diese Praxis setzt die Forderung nach konkreter Aufarbeitung gegen das abstrakte „Nie wieder“. Sie setzt Empathie mit den Opfern gegen die Selbstvergewisserungen der Täter:innen und ihrer Nachfahren. Sie setzt Erinnerung als eingreifende Praxis gegen eine ritualisierte, abgeschlossene Erinnerungskultur. Sie schafft Orte der Solidarität zwischen Betroffenen. Überlebende finden darin Kraft und Stärke, weil sie ihre Geschichten selbst erzählen, anstatt zu Statisten im Gedächtnistheater gemacht zu werden.
Das Tribunal „NSU-Komplex auflösen“ war ein solcher Ort selbstbestimmten Gedenkens zwischen Überlebenden des NSU sowie anderer neonazistischer Anschläge, politischen Initiativen – und eben auch Bejarano als Überlebende der Shoah.
Es war von einem breiten Bündnis antirassistischer und antifaschistischer Initiativen organisiert worden, um den Überlebenden und Angehörigen der rechtsterroristischen Mordserie Raum zum Sprechen zu geben, um anzuklagen, um zu beklagen und um einzuklagen. Bejarano sagte dort: „Wir alle haben die Pflicht, Verantwortung zu übernehmen, solidarisch mit den Opfern rassistischer Gewalt zu sein und ihnen zur Seite zu stehen, zuzuhören und ihnen das Gefühl zu geben, dass sie nie wieder alleine sein werden. Auch das Tribunal ist jetzt ein Teil einer Rache an den Nazis!“
Empathie und Solidarität
Die Verbindung zwischen dem Nationalsozialismus und der neonazistischen Gewalt der Gegenwart nahm Ibrahim Arslan, Überlebender des Brandanschlags von Mölln 1992, in der Abschlussrede des Tribunals auf. Er kritisierte Gedenkpolitiken, die ohne Berücksichtigung der Wünsche der Überlebenden stattfinden: „72 Jahre nach dem Holocaust steht immer noch die Frage, wie man mit Opfern und Betroffenen und deren Gedenken umgehen soll.“ Er plädierte dafür, dass die Perspektiven der Überlebenden im Zentrum stehen. Nur so seien Empathie und Solidarität möglich.
Auch die „Möllner Rede im Exil“ ist Teil eines solchen Kampfes. Sie entstand, weil Verantwortliche der Stadt Mölln der hinterbliebenen Familie ein selbstbestimmtes Gedenken an den Brandanschlag, an Yeliz Arslan, Ayşe Yılmaz sowie Bahide Arslan verweigerten und sie in Ibrahim Arslans Worten zu „Statisten“ machte. Die Möllner Rede im Exil wird seit 2013 durch die hinterbliebene Familie sowie durch einen solidarischen Freundeskreis an wechselnden Orten und mit unterschiedlichen Redner:innen organisiert.
Arslan und Bejarano (vertreten durch ihren Sohn Yoram) begegneten sich erneut während der Möllner Rede im Exil 2017. „Um es klar auszusprechen, ohne das Wegschauen und das Decken nach 1945 hätte es das Oktoberfestattentat, Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Solingen und Mölln und den NSU so nicht geben können. Es hätten aus den Erfahrungen und Ereignissen des Nationalsozialismus die richtigen Konsequenzen gegen den Hass gezogen werden müssen“, so Bejarano.
Die eigene Geschichte
Arslan und Bejarano fanden Worte, um ihre eigenen Geschichten für die Geschichten anderer zu öffnen und sich selbst in der Geschichte der anderen zu verorten. Natürlich waren ihre Erfahrungen nicht die gleichen; aber sie teilten eine gemeinsame Haltung, die sie aus ihren Erfahrungen heraus entwickelt hatten. Arslan versprach Bejarano, die Erinnerung fortzuführen, was jetzt – im Angesicht ihres Todes – eine neue Bedeutung bekommt.
Unterschiedliche gesellschaftliche Kämpfe kommen hier zusammen und es besteht keine Gefahr der Opferkonkurrenz zwischen Betroffenen unterschiedlicher Gewaltverhältnisse. Es gibt eine gemeinsame Erinnerung an Ermordete, ohne zu vergessen, was die Spezifika der jeweiligen Taten sind. Jedes Gedächtnis findet seinen Platz und keines muss abschließend festgeschrieben werden. Im Gegenteil: Gedächtnisse werden füreinander geöffnet und genau darin kann das Spezifische gegenseitige Anerkennung finden. So kann auch nach dem Tod von Zeitzeug:innen die Erinnerung an die Shoah in den Kämpfen um eine bessere Welt weitergeführt werden.
Wichtig dafür ist eine politische und historische Reflexion der Ursachen und Wirkungen des Erfahrenen, die als Grundlage für eine Veränderung der gegenwärtigen Zustände dient. Aber diese Erinnerungspraxis führt nicht in Debatten um „Opferkonkurrenzen“, weil sie die Differenzen benennen kann, ohne das Verbindende aus den Augen zu verlieren.
Eine Verbindung verschiedener Gedächtnisse kann man nicht nur zwischen Arslan und Bejarano sehen, sondern auch zwischen der Möllner Rede im Exil 2017 und der Möllner Rede im Exil 2021. 2021 hielten Naomi Henkel-Gümbel, angehende Rabbinerin und Überlebende des rechtsterroristischen Anschlags von Halle an Yom Kippur im Jahr 2019, und Newroz Duman, antirassistische Aktivistin und Sprecherin der Initiative 19. Februar, gemeinsam die Möllner Rede im Exil. Ihr gemeinsames Sprechen steht auch für die Solidarität zwischen den Betroffenen von Halle, Hanau und von anderen Anschlägen.
Ohne Angst verschieden sein
Wieder gelang an diesem Ort ein verbundenes Erinnern unterschiedlicher Ereignisse und Hintergründe. In einer dialogisch vorgetragenen Rede berichteten sie von ihren Erfahrungen – des Alltagsantisemitismus auch in seiner Unterschiedenheit zum Rassismus, des rechtsterroristischen Anschlags, des Überlebens und des Alltagsrassismus und der Angst vor Abschiebung – so, dass sie nebeneinander stehen konnten, aber auch eine Verbindung zwischen den Sprechenden geschaffen wurde.
Als Gemeinsamkeit hob Henkel-Gümbel hervor: „Wir haben uns dem nicht gebeugt. Wir sind nicht in die Unsichtbarkeit gegangen. Wir – wir sind die radikale Vielfalt an sich. Das Schöne. Das Andere. Das Sichtbare. Das Mögliche.“
Eine solche Praxis solidarischen Gedenkens und Kämpfens – in der Verbindung der Verbrechen der Nationalsozialisten und neonazistischer Anschläge der Gegenwart, ebenso wie im gemeinsamen Gedenken Betroffener rassistischer und antisemitischer Gewalt – steht einer offiziellen Erinnerungskultur entgegen, die zwar an Vergangenes als etwas Abgeschlossenes erinnert, nicht aber kritisch die gesellschaftliche Gegenwart verändern will.
Die hier entstehende Gemeinsamkeit liegt in den Motiven, die diese Erinnerungen zusammenführen und die über die erinnerte Vergangenheit hinaus in die Zukunft weisen. Man kämpft um ein Erinnerungsritual, aber immer auch darüber hinaus. Dabei wird praktisch vorweggenommen, was man sich für eine veränderte Gesellschaft wünscht: Eine Gesellschaft ohne Macht- und Gewaltverhältnisse, ohne Rassismus und Antisemitismus; einen Zustand, in dem alle Menschen ohne Angst verschieden sein können, so Theodor Adorno. In einer solchen besseren Gesellschaft braucht es, so ein Gedanke von Zygmunt Bauman, keine ritualisierte Erinnerungskultur, die im öffentlichen Bewusstsein eingefriedet ist. Sie wäre in der Praxis einer nicht-mehr-rassistischen und nicht-mehr-antisemitischen Gesellschaft aufgehoben.
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