piwik no script img

Umgang mit DepressionenDie endlose Liste des Schämens

Menschen mit Angststörungen oder Depressionen neigen dazu, sich wegen ihrer Erkrankung zu schämen. Das kostet wahnsinnig viel Energie.

Sich „einfach zusammenzureißen“, klappt bei Depressionen nicht. Manche schämen sich deshalb Foto: Elva Etienne/getty images

D epressionen gibt es nicht, die Leute müssen sich einfach mehr zusammenreißen. Der Satz klingt wie das reinste Klischee und doch habe ich ihn bereits gehört. Ziemlich genau neun Jahre ist das her: Ich war fast 22 und kam gerade aus einer psychiatrischen Klinik. Der Satz kam von einer damaligen Freundin (unschwer zu erraten, dass wir heute nicht mehr befreundet sind) und fühlte sich an wie eine oder mehrere verbale Ohrfeigen.

Depressionen gibt es nicht! Was du fühlst, ist falsch! Du reißt dich nicht genug zusammen! Der Schmerz, den die verbale Schelle hinterließ, saß tief. Am schlimmsten daran war aber, dass ich trotz Diagnose ähnlich dachte. Denn im Endeffekt fühlte es sich an, als sei ich an etwas ganz Grundlegendem gescheitert. Während alle um mich herum studierten, feierten und ja, einfach lebten, schaffte ich es nicht aus dem Bett. Ich passte plötzlich nicht mehr in das, was als akzeptiert galt, hielt mich nicht mehr an die gesellschaftskonformen Regeln des alltäglichen Lebens. Ich begann, mich für meine Unzulänglichkeit zu schämen.

Schamgefühle sind stark moralisch geprägt, helfen uns dabei, unser eigenes Verhalten zu steuern und uns an Normen und Werte anzupassen. Sie sichern also unser Zusammenleben in gesellschaftlichen Gruppen. Wer sich schämt, zeigt, dass er*­sie sich dem normabweichenden Verhalten bewusst ist und es bereut, was wiederum Sympathien steigert.

Bei Menschen mit Angststörungen, Sucht­er­krankungen oder Depressionen tritt Scham aber oft verstärkt auf und kann krankhafte Züge annehmen. Scham vorm Kontrollverlust, vorm Andersein, vorm Nicht-mehr-dazu-Passen: Wer Scham besonders stark empfindet, beginnt unangenehme Situationen zu vermeiden, um sich, so schreibt es der Psychoanalytiker Léon Wurmser, „vor den Blicken der anderen zu verbergen“. Schließlich möchte man nicht in seiner Fehlerhaftigkeit gesehen werden.

Endlose Liste des Schämens

Ich kann gar nicht aufzählen, für was ich mich alles geschämt habe und teilweise noch schäme – die Liste wäre endlos. Das Perfide ist, dass es wahnsinnig viel Energie kostet, sich zu schämen. Energie, die man für anderes aufwenden könnte. Für den Kampf gegen den Klimawandel oder gegen das Patriarchat zum Beispiel.

Ganz ablegen werde ich die Scham wohl nie; für das Zusammenleben mit anderen wäre das auch nicht nützlich. Was mir hilft, ist, auf Konfrontationskurs zu gehen und möglichst offen mit ihr umzugehen. Das mag auf mein Gegenüber erst mal irritierend wirken, schließlich lernen wir, schambesetzte Dinge für uns zu behalten.

„Das Schlimmste an der Scham ist, dass man glaubt, man wäre die Einzige, die so empfindet“, schreibt die Autorin Annie Ernaux in „Die Scham“. Das dem nicht so ist, lernen wir erst, wenn wir uns einander anvertrauen, statt uns zusammenzureißen.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Sophia Zessnik
Redakteurin für Theater
Sophia Zessnik ist seit 2019 bei der taz und arbeitet in den Bereichen Kultur und Social Media. Sie schreibt am liebsten über Alltägliches, toxische Männlichkeit und Menschen im Allgemeinen. In ihrer Kolumne „Great Depression“ beschäftigt sie sich außerdem mit dem Thema psychische Gesundheit.
Mehr zum Thema

2 Kommentare

 / 
  • Es gibt keinerlei Grund sich zu für Depressionen und Angststörungen zu schämen. Und man ist auch nicht allein. Depressionen sind eine Volkskrankheit und immer öfter brauchen auch schon Schulkinder therapeutische Hilfe. Nicht die Betroffenen müssen sich dafür schämen, eher schon die Ängste erzeugende Gesellschaft. Ich würde jedem Erkrankten raten sich zu offenbaren. Dabei sollte man allerdings weder inflationär jedem alles erzählen und dem eigenen Selbstgefühl Gewalt antun, noch nur in der Schonzone der Freunde bleiben. Sich zu offenbaren ist einfach entlastend und man bekommt manchmal ganz überraschend sehr freundliche Reaktionen. Verständnis hilft aber nicht unbedingt, das hatten wir ja schon beim letzten Mal. Und ebenfalls, dass man sich schon mindestens fragen muss, ob man etwas falsch gemacht hat, ob man sein Leben ändern muss, ob man einfach anders ist und sich nicht an anderen messen sollte, ob man vielleicht schwächer ist, ängstlicher oder sensibler. Das ist alles legitim, aber die Hoffnung "nach Reparatur" wieder "normal" leben zu können, die ist gefährlich.

    • @Benedikt Bräutigam:

      "Gründe" gibt es sogar reichlich - sie werden einem ja ungefragt immer wieder aufgetischt. Beispielsweise in der Form "Reiß Dich zusammen" (Schäm Dich, dass Du das nicht machst bzw. von selber drauf gekommen bist), mit der sanfteren Variante "Kopf hoch! Das wird schon wieder!", oder auch "Stell Dich nicht so an!" (Schäm Dich, dass Du mich mit sowas überhaupt belästigt hast.) gerne garniert mit Geschichten von der Tante des Nachbarn, der es ja so viel schlechter geht. So etwas führt schonmal zur spontanen Reduktion des ohnehin schon kleinen Freundeskreises.