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Umgang mit Corona-LockerungenAbstand aus Anstand

Barbara Dribbusch
Kommentar von Barbara Dribbusch

Auch wer sich für nicht gefährdet hält, sollte aus Rücksicht auf Risikogruppen Coronaregeln einhalten.

Die Frage des Jahres 2020: Wie viel sind 1,50 Meter im Alltag? Foto: Marijan Murat/dpa

W er sich an die Regeln halten will, kennt solche Diskussionen: Was ist mit dem Geburtstagsfest von F., 40 Leute, vom Betreiber der Kneipe in Berlin wurde signalisiert, man könnte den großen Extraraum mieten, der sei ja groß genug, um Abstand zu halten. Hm. Ein geschlossener Raum. Fete mit Alkohol und Musik. Livemusik. Livemusik mit Gesang. Gesang, der den Ruf hat, meterweit möglicherweise verseuchte Aerosole durch die Luft zu schleudern.

Und das mit dem Abstand kann man sowieso vergessen, wenn man alte Bekannte trifft, denen man wahrscheinlich ins Ohr schreien muss, weil die Bands garantiert aufdrehen, wo man doch so lange nicht mehr live spielen durfte. Andererseits: Was sollen diese Regeln? Kitas und Schulen in Berlin öffnen in einigen Wochen genauso wie vor der Pandemie. Wer an einem heißen Tag an einen Badestrand der Berliner Stadtseen fährt, hat den Eindruck, Corona hätte es nie gegeben.

Am Ende aber wird die Geburtstagsfete von F. doch verschoben. Viele Ältere wären gekommen, diese Altersgruppe, die auf Feten schon mal über die Prostata redet. Risikogruppe! Also lieber nicht. Die Frage bleibt: Was tun, jetzt, wo die Corona­regeln allenthalben gelockert werden? Gräben tun sich auf zwischen denen, die am liebsten so tun würden, als wäre alles so wie früher vor Corona, und den anderen, die diesem Stimmungswechsel nicht trauen und darauf hinweisen, dass es bei der Spanischen Grippe ja auch eine zweite, eine dritte Welle gegeben hat.

Verantwortung für sich und das Kollektiv

Wir sind in einer Phase angekommen, in der jeder im Alltag seinen ganz persönlichen Corona­schutz verfolgt, oft nur noch nach den allergröbsten Regeln. Es reicht aber nicht, zu glauben, alles, was open-air stattfindet, sei grundsätzlich okay und in Räumen hält man halt zu Fremden ein bisserl Abstand. Jede und jeder trägt nach wie vor eine doppelte Verantwortung: eine für sich selbst und eine für das Kollektiv. Jede, die sich selbst infiziert, kann auch zur Verteilerin des Virus werden. Und jeder, der die Abstandsregeln offen bricht, setzt damit nach außen auch Maßstäbe: Hey, nehmt das Ganze nicht so ernst! Dabei haben Studien gerade wieder gezeigt, dass die Maskenpflicht, beispielsweise in Jena, doch viel gebracht hat im Kampf gegen das Virus.

Im Alltag sieht man deshalb Paradoxes: Mehr alte Menschen als junge Leute laufen mit Masken herum, obwohl die Maske vor allem dazu dient, die Umwelt vor der TrägerIn zu schützen und nicht umgekehrt. Tausende junge Leute wiederum gehen auf Demonstrationen, nahmen an Pfingsten ungeschützt an einer Schlauchboot-Party auf dem Landwehrkanal in Berlin teil. Ist hip oder ein Arschloch, wer alle Abstandsregeln ignoriert?

Jede und jeder trägt weiterhin eine doppelte Verantwortung: eine für sich selbst und eine für das Kollektiv

Als die evangelische Theologin Margot Käßmann, 61, einen „Deal der Generationen“ vorschlug, erntete sie heftige Kritik. Ihre Idee: Wenn die vulnerablen Älteren daheimblieben, um sich vor Infektionen zu schützen, könnten die Jüngeren doch unbekümmert raus. Das war der Gedanke der „Umkehrisolation“. Es gibt in Deutschland allerdings 20 Millionen RentnerInnen, 7 Millionen DiabetikerInnen und Hunderttausende von Familien mit Schwerstkranken in ihrer Mitte. Ihnen zu raten, doch lieber zu Hause zu bleiben, damit die übrigen in Cliquen locker draußen abhängen können, das kommt nicht gut an.

Inklusion statt Umkehrisolation

Die Aufhebung vieler Maßnahmen könnte sich aber auch ohne große Ansage in eine verdeckte „Umkehrisolation“ verwandeln, solange es kein Heilmittel und keinen Impfstoff gegen Covid-19 gibt. Denn wer einer vulnerablen Gruppe angehört, hat unter Umständen große Furcht, unter Menschen zu gehen, in den Supermarkt, in die U-Bahn, wenn alle ungeschützt rumlaufen und man selbst im seltenen Falle einer Ansteckung schwere gesundheitliche Konsequenzen fürchten muss.

Wir müssen daher neu denken, und zwar „inklusiv“. Inklusion bedeutet, dass auch Menschen mit Vorerkrankungen sich noch auf Veranstaltungen mit vielen Menschen trauen. Das geht aber nur, wenn auch die weniger Gefährdeten Masken tragen und Abstand halten. Die Abstandsregel sollte sich in eine Anstandsregel verwandeln. Unterschiede in den persönlichen Risiken lassen sich dabei nicht grundsätzlich einebnen, das muss man auch ehrlich sagen. Es wird für Hochaltrige, für DiabetikerInnen, für Lungenkranke immer riskanter sein, dorthin zu gehen, wo die Ansteckungsgefahr größer ist: Kinos oder Restaurants.

In größeren Menschenmengen sollten aber Masken für alle zum inklusiven Outfit gehören, als Botschaft an die Gefährdeten: Ihr könnt mitmachen. Die für Sonntag geplante „Unteilbar“- Demonstration in mehreren Städten, wo mit Maske und jeweils drei Meter Abstand eine „Bänderkette“ gebildet wird, ist dafür ein gutes Beispiel.

Die Angst vor der U-Bahn

Strenge Beschränkungen, die auch kontrolliert werden, sollten weiterhin in lebenswichtigen Bereichen gelten, deren Nutzung ohne Alternative ist: U-Bahnen, Busse, Supermärkte. Es ist beängstigend für einen Vorerkrankten, in eine U-Bahn steigen zu müssen, wenn nur die Hälfte der Leute dort eine Maske trägt. Im Einzelhandel und im öffentlichen Nahverkehr sollten eine Maskenpflicht und Abstandsregeln bis auf Weiteres verbindlich durchgesetzt werden.

Der Spielraum für persönliche Entscheidungen bleibt ja trotzdem. In Österreich wurde der Begriff der „Risikogemeinschaft“ geprägt. In der „Risikogemeinschaft“ treffen sich Erwachsene aus unterschiedlichen Haushalten, ohne Mindestabstand. Die „Risikogemeinschaft“ stellt man sich jeweils selbst zusammen. Die Mitverantwortung für die Prävention wird dadurch in eine Aufforderung umgewandelt, den Nahkontakt zu haushaltsfremden Personen überschaubar zu halten.

Wir brauchen derzeit einen Mix aus Verboten und Geboten, um die Gesellschaft auch für Vulnerable „barrierefrei“ zu halten. Wie es längerfristig weitergeht, werden dann die Infektionszahlen zeigen.

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Barbara Dribbusch
Redakteurin für Soziales
Redakteurin für Sozialpolitik und Gesellschaft im Inlandsressort der taz. Schwerpunkte: Arbeit, soziale Sicherung, Psychologie, Alter. Bücher: "Schattwald", Roman (Piper, August 2016). "Können Falten Freunde sein?" (Goldmann 2015, Taschenbuch).
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