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Umgang mit BehinderungDamals war es Karlchen

Gesellschaftliche Vorstellungen begünstigten die Euthanasie in der NS-Zeit. Wir müssen für ein soziales Klima sorgen, in dem jeder willkommen ist.

Was denkt die Gesellschaft über sie? Mädchen auf einer Pflegefachmesse in Düsseldorf Foto: dpa | Victoria Bonn-Meuser

N eulich hörte ich eine Lesung des neuen Romans „Alle meine Geister“ von Uwe Timm. Er erzählt darin über seine Jugendjahre im Nachkriegsdeutschland. Eine Szene des Buches berührte mich ganz besonders. Timm beobachtet darin, wie der Junge „Karlchen“ am 4. Mai 1945 – also einen Tag nach der Kapitulation Hamburgs – zum ersten Mal in seinem Leben die Wohnung verlässt, in der seine Eltern ihn 12 Jahre lang versteckt hatten. Der Junge tanzt auf der Straße, er umarmt die Bäume und er gibt seltsame Schreie von sich.

Karlchen war mit dem Down-Syndrom auf die Welt gekommen, wie mein eigener Sohn. Damals hätte man ihn einen „mongoloiden Idioten“ genannt und ermordet, hätten seine Eltern seine Existenz nicht verheimlicht.

Wie viel Ängste, Entbehrungen und Verzweiflung muss diese kleine Familie dort in der Wohnung unter dem Dach durchlitten haben? Es kommt mir wie ein Wunder vor, dass sie es überlebt haben. Unser geliebter Willi wäre ohne medizinische Hilfe schon in seinem ersten Lebensjahr mehrfach gestorben.

Und was wäre aus meinem Mann und mir geworden, ohne unsere Familie und Freunde, die immer an unserer Seite sind? Der Gedanke, dass jedes laute Geräusch von Karlchen – und sei es sein Lachen – ihm das Leben hätte kosten können, schnürt mir die Kehle zu.

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Das elementarste Gefühl überhaupt

Waren wohl die Großeltern oder ein paar Freunde eingeweiht? Haben es die Nachbarn gewusst? Eine Kindheit in einer Wohnung eingesperrt, leise sein, leise sein, nicht mal aus dem Fenster schauen dürfen – denn dort konnte man gesehen werden – so viel Schmerz und Einsamkeit kann ich mir unmöglich vorstellen.

Ebenso wenig kann ich mir vorstellen, wie es dazu kommen konnte, dass diese furchtbare Vorstellung vom „lebensunwerten Leben“ behinderter und psychisch kranker Menschen in den Köpfen der Menschen so verbreitet war, dass dies andere Eltern dazu brachte, ihre Kinder sogar freiwillig in die Kliniken zu geben, aus denen keines je wieder nach Hause kam.

Ich dachte, dass die Liebe zu seinem Kind das elementarste Gefühl überhaupt sei, das zu jeder Zeit und an jedem Ort gleich groß sein müsste. Aber tatsächlich haben allgemeine gesellschaftliche Vorstellungen sogar auf die Elternliebe Einfluss.

Die Idee der „Rassenhygiene“ war übrigens keine Nazierfindung. Schon vor dem zweiten Weltkrieg war Eugenik in fast allen sogenannten zivilisierten Staaten in Mode. In den USA, der Schweiz oder beispielsweise im sozialdemokratischen Schweden wurden Rassengesetze verabschiedet und im Namen der Volksgesundheit fleißig vermeintlich „erblich Minderwertige“ zwangssterilisiert.

Wer jetzt auf die Straße geht, geht auch für alle Karlchens und Willis dieser Welt auf die Straße

Was später in Nazideutschland unter dem Schlagwort Euthanasie betrieben wurde, war dann ein beispielloses Tötungsprogramm, das hunderttausenden als „unnütz“ betrachteter Menschen das Leben kostete ­– ganz ohne nennenswerte Proteste.

Mir kommt es geradezu perfide vor, dass auch heute wieder Kinder mit Behinderung aussortiert werden. Die Verantwortung für ihr Leben oder Sterben wurde ganz zwanglos in die Hände der werdenden Eltern gelegt, die dies „allein“ entscheiden sollen. Doch gerade die Angst davor „allein“ zu sein, macht vielen diese Entscheidung schwer. Dazu kommt ein bunter Strauß an pränataldiagnostischen Untersuchungsangeboten – oft sogar als Kassenleistung – die eine gewisse Erwartungshaltung zumindest ahnen lassen.

Der AfD-Politiker Höcke spricht sogar ganz offen aus, dass er „gesunde Schulen“ will, die von der Inklusion „befreit“ werden müssen, da solche Projekte „Kinder nicht leistungsfähiger machen“.

Ich denke, unsere gesellschaftliche Verantwortung für ein soziales Klima zu sorgen, in dem jeder Mensch willkommen ist, ist heute so groß wie seit 100 Jahren nicht. Wer jetzt gegen ein antiindividualistisches Menschenbild auf die Straße geht, der geht damit auch für alle Karlchens und Willis dieser Welt auf die Straße – wir brauchen sie dringend, um Menschen zu sein!

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Birte Müller
Freie Autorin
Geboren 1973 in Hamburg. Seit sie Kinder hat schreibt die Bilderbuchillustratorin hauptsächlich Einkaufszettel und Kolumnen. Unter dem Titel „Die schwer mehrfach normale Familie“ erzählt sie in der taz von Ihrem Alltag mit einem behinderten und einem unbehinderten Kind. Im Verlag Freies Geistesleben erschienen von ihr die Kolumnensammlungen „Willis Welt“ und „Wo ein Willi ist, ist auch ein Weg“. Ihr neuestes Buch ist das Kindersachbuch „Wie krank ist das denn?!“, toll auch für alle Erwachsenen, die gern mal von anderen ätzenden Krankheiten lesen möchten, als immer nur Corona. Birte Müller ist engagierte Netzpassivistin, darum erfahren Sie nur wenig mehr über sie auf ihrer veralteten Website: www.illuland.de
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8 Kommentare

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  • Zögere - versuch‘s aber mal.

    War wohl ein Pöks von 10/12 Jahren, als ich meine Mutter*04 (exFürsorgerin/Krankenschwester) fragte, warum ein befreundetes Ehepaar ohne erkennbaren Grund keine Kind hätte? “Nunja. In ihren Familien gibt es gehäuft behinderte Kinder. Frauman las “Häckel Welträtsel“ auch dies und das zu Euthanasie. Heute sieht man vieles anders - aber damals - ich kommt’s gut

    • @Lowandorder:

      Sorry he techné & digi-taz ist lausig

      …ich konnt‘s gut verstehen!“



      &



      Meine Ton-Frau - knapp was älter.



      Schwerstbehindertes Kind und sie hat alle Hebel in Bewegung gesetzt - Urlaub auf Kreta usw usf - eine liebevoll liebende.



      Hin und wieder - der Sohn war in weit fortgerücktem Alter - sprachen wir drüber



      Ihr nüchternes Resümee “ das liest sich alles im Feuilleton der faz so gut.



      Hätte ich’s damals gewußt und die Möglichkeit gehabt: ich hätte mich anders entschieden.“

      unterm—-btw but not only - between —



      Sauerstoffmangel in der Geburt:



      Mutter => 4 Lungenschnitte wg TBC -



      “Er kam raus wie ein abgezogenes Kaninchen!“ => sie muß das Ehepaar Bobath gekannt/davon gehört haben.



      de.wikipedia.org/wiki/Bobath-Konzept - icke wg Stroke! Erfolgreich.



      de.wikipedia.org/wiki/Bobath-Konzept



      Icke - hatte nur 3/4mal die Nabelschnur um den Hals - Glück gehabt - nix.

  • Die Autorin schreibt: "Mir kommt es geradezu perfide vor, dass auch heute wieder Kinder mit Behinderung aussortiert werden. Die Verantwortung für ihr Leben oder Sterben wurde ganz zwanglos in die Hände der werdenden Eltern gelegt, die dies „allein“ entscheiden sollen."

    Es geht aber ("werdende Eltern") nicht um Kinder mit (oder ohne) Behinderung, sondern um Föten. Ein Schwangerschaftsabbruch ist nicht dasselbe wie das Töten eines Kindes. Das ist eigentlich eine Selbstverständlichkeit, und es gilt unabhängig davon, ob sich der Fötus im Falle der Austragung der Schwangerschaft voraussichtlich zu einem behinderten oder zu einem nichtbehinderten Kind entwickeln wird. Eine Gleichsetzung von Föten mit Kindern hätte zwingend das ausnahmslose Verbot aller Schwangerschaftsabbrüche zur Konsequenz, denn das Töten von Kindern ist mit Recht ausnahmslos verboten.

    • @Budzylein:

      Dass Föten ohne Befund und solche die einen Befund für eine Behinderung (oft ist der Befund nicht sicher) haben "gleichwertig" im Abtreibungsrecht sind, stimmt nicht. Es gibt nach wie vor einen Unterschied. Nach "medizinischer Indikation" (hier wird die Gesundheit der Frau als Indikator genommen und die Belastung durch ein behindertes Kind als gesundheitliches Problem bzw. unzumutbare Belastung der Mutter definiert) sind sogar Spätabtreibungen, also nach der 12. Woche straffrei, Föten ohne Befund können nur bis zur 12. Schwangerschaftswoche (nach der Pflichtberatung) straffrei abgetrieben werden. Noch immer kommt es zu Abtreibungen nach medizinischer Indikation bis zur 22. Woche, auch wenn zu diesem Zeitpunkt dank medizinischen Fortschritts Frühgeburten bereits überleben können. Man kann durchaus davon ausgehen, dass die seit Jahrhunderten "gepflegte" Behindertenfeindlichkeit in der Gesellschaft, aktuell nach wie vor auch begünstigt von der "Verwertungslogik" im Kapitalismus, sowie die gegenwärtigen noch immer mangelhafte staatliche Unterstützung von Familien mit behinderten Kindern, Abtreibungen von vermutlich behinderten Föten begünstigt und daher keine "freie" Entscheidung ist. Ich persönlich wäre für die Abschaffung von Paragraph 218 und eine einheitliche straffreie Abtreibung bis zur 12. Schwangerschaftswoche. Zugleich muss staatliche Unterstützung für Familien mit (Schwer-) behinderten Kindern endlich so ausgestattet sein, dass Familien nicht länger gegenüber Familien ohne behinderte Kinder finanziell und zeitlich schlechter gestellt werden. Heißt dass Betreuung und / oder Pflege auch zu Hause durch entsprechende Assistenz in den Familien komplett übernommen wird und behindert Kinder und Menschen nicht länger durch gesellschaftliche und politische Ignoranz und entsprechende physische und psychische Barrieren behindert werden.

  • Als Zivildienstleistender (gg. 1985) mit behinderten Menschen wurde mir im Vorbeigehen von einer älteren Frau mitgegeben, dass es das unter Adolf nicht gegeben habe und als Vater eines schwerbehinderten Jungen wurden wir auf Spazeirgängen mehr als einmal gefragt, ob man das nicht vorher gesehen habe ... Weiterreden musste da niemand mehr denn mit dem Wissen hätten alle vernünftigen Eltern das Kind abgetrieben.



    Gesellschaft als eine entscheidungsprägende Instanz kommt in dem Text leider nur am Rande vor.

  • Die Angst vor und Ablehnung von "missgestalteten" Kindern ist noch viel älter als hier dargestellt. Man glaubte beispielsweise, der Teufel hätte einer Mutter das Neugeborene gestohlen und durch einen sogenannten Wechselbalg ersetzt - nachzulesen bei Wikipedia, aber auch in den Märchen der Gebrüder Grimm.

  • Danke für diesen sehr wichtigen Text.



    Bei der ersten Demo in Frankfurt stand eine Familie mit ihrem mehrfachbehinderten Sohn neben mir. Das hat mich sehr berührt und dabei freudig gestimmt, dass diese Familie klar und engagiert gegen aufkommende faschistische Ideen auf die Straße geht.

  • " Die Verantwortung für ihr Leben oder Sterben wurde ganz zwanglos in die Hände der werdenden Eltern gelegt, die dies „allein“ entscheiden sollen."

    Das ist genau der Kasus Knaxus.



    Wesentlicher Bestandteil von humangenetischen Untersuchungen ist die ausführliche Beratung der Patienten, BEVOR die Diagnostik durchgeführt wird.

    Leider gilt dies nicht für Ultraschalldiagnostik in der Schwangerschaft. Die Quote der Teilnahme an der Ultraschallfeindiagnostik ist sehr hoch. Es gibt auch ein Recht auf Nicht-Wissen! Das kann man aber nur wahrnehmen, wenn man VOR einer Entscheidung für eine diagnostische Maßnahme aufgeklärt ist - und zwar insbesondere darüber, welche Entscheidungen DANACH evtl. getroffen werden müssen.

    Ich halte die Pränataldiagnostik grundsätzlich für ein sehr wertvolles Instrument. Klar, dass die Mutter eines Kindes, das von vielen wohl abgetrieben worden wäre, darauf einen kritischen Blick hat.



    Wir dürfen aber auch nicht vergessen, dass viele Erkrankungen so schwer sind, dass sie auch bei bester medizinischer Versorgung nicht mit dem Leben vereinbar sind. Oder noch während der Schwangerschaft zum Tod der Frucht führen werden. In diesen Fällen ist die frühzeitige Beendigung der Schwangerschaft wohl für die meisten die bessere Wahl.

    Trotzdem danke für den Text und die Sensibilisierung für das Thema!

    Nicht das Ausschließen behinderter Kinder ist das Ziel, sondern die konsequente Bereitstellung der notwendigen (personellen!) Ressourcen, um Inklusion zu ermöglichen.