Ultraorthodoxe Juden in Israel: Kontaktloses Pessachfest
Corona breitet sich rasant in Israels ultraorthodoxen Gemeinschaften aus. Doch langsam nehmen auch die Strengreligiösen das Virus ernst.
Israels Orthodoxe leben in ihrer eigenen Welt. Sie benutzen koschere Handys ohne oder mit gefiltertem Internetzugang, besuchen eigene religiöse Schulen, oft ohne Kernfächer wie Mathematik oder Fremdsprachen, folgen ihrem eigenen religiösen Gerichtssystem und haben eigene Kommunikationskanäle. Wie andere orthodoxe Städte und Stadtviertel ist auch Bnei Brak zu einer Hochburg der Corona-Pandemie geworden. Jeder dritte Getestete in Bnei Brak ist positiv, die Infektionsrate ist hier fünfmal höher als im Rest des Landes.
In Israels Krankenhäusern ist etwa die Hälfte der Coronapatient*innen ultraorthodox, dabei machen die Haredim, wie sie auf Hebräisch heißen, nur 12 Prozent der Bevölkerung aus. Insgesamt sind mittlerweile über 6.000 Israelis infiziert, 31 sind gestorben. Das ist vergleichsweise wenig, denn Israel hat früh drastischen Maßnahmen getroffen, um das Virus einzudämmen. In den ultraorthodoxen Gemeinschaften aber wurden sie nur zögerlich und mit zweiwöchiger Verspätung umgesetzt.
Unter normalen Umständen würden kurz vor Pessach, das am kommenden Mittwoch beginnt, die Bürgersteige von Bnei Brak vor Menschen bersten, die noch die letzten Einkäufe machen. Dieses Jahr trifft man nur den einen oder anderen Mann mit Schläfenlocken oder vereinzelte Frauen mit langem Rock und Perücke, die noch die letzten Dinge besorgen: Mazza, das ungesäuerte Brot, Eier, koscheren Wein und Gemüse.
Yakov Eisenthal aus Bnei Brak
An den Haupteinfahrtstraßen kontrollieren mittlerweile Polizeibeamte die Pässe derjenigen, die nach Bnei Brak fahren. Vor einer Woche sah das noch ganz anders aus. Lange ignorierte Bnei Brak die drastischen Corona-Maßnahmen des Gesundheitsministeriums. Als andere Israelis schon nicht mehr die Häuser verließen, verkündeten die Rabbis weitgehend unisono, dass das Studium der Tora weitergehen müsse und die religiösen Schulen nicht geschlossen würden. Bnei Braks Bürgermeister Abraham Rubinstein feierte vergangene Woche sogar noch die Hochzeit eines Familienmitglieds vor seinem Haus. Hunderte tanzten dort Arm in Arm.
Anders als die meisten aus seiner „Shul“, seiner Synagoge, nutzt Eisenthal, der Herausgeber der jüdischen Zeitschrift Zman ist, das Internet. Er wusste früh, was mit dem Coronavirus auf Israel zukommen würde, und hörte auf das Gesundheitsministerium. Schon seit einem Monat verlassen Eisenthal und seine Familie das Haus nur noch zum Einkaufen. Seine Nachbarn, Freunde und Kollegen jedoch folgten den Rabbis und schickten ihre Kinder weiter zur Schule. „Es herrscht in unserer Community tiefes Misstrauen gegenüber den staatlichen Institutionen“, erklärt er das Verhalten der anderen, „erst vor Kurzem ist ihnen schockartig klar geworden, dass das Virus tödlich sein kann.“
Das Umdenken in Bnei Brak hängt wohl auch damit zusammen, dass Bürgermeister Rubinstein und seine Frau positiv getestet wurden. „Dies ist der Moment, an dem wir Stopp sagen müssen“, verkündete Rubinstein am vergangenen Freitag aus der Quarantäne. Am selben Abend noch fuhren Autos mit Lautsprechern durch die Straßen und riefen die Anwohner*innen auf, zu Hause zu bleiben.
Familienfeiern sind verboten
„Die größte Herausforderung ist nun Pessach“, erklärt Gilad Malach, der am Israelischen Demokratieinstitut in Jerusalem das Programm „Ultraorthodoxe in Israel“ leitet. Pessach beginnt mit dem Sederabend, zu dem normalerweise die gesamte Großfamilie zusammenkommt. Doch das ist in diesem Jahr verboten. Hält sich die Bevölkerung nicht daran, könnte dies fatale Folgen haben.
Während die Zahlen der Infektionen in den vergangenen Wochen in Israels orthodoxen Gemeinschaften immer rapider anstiegen, verfasste Malach für das Gesundheitsministerium und die Polizeibehörden ein Papier zum Umgang der Ultraorthodoxen mit dem Coronavirus. „Für die Ultraorthodoxen“, erklärt er, „müssen jetzt sehr genaue Regeln und Verhaltensweisen erstellt werden, die die religiösen Führer in Zusammenarbeit mit dem Gesundheitsministerium entwickeln.“ Es sei beispielsweise eine jüdische Tradition, vor Pessach sämtliche Lebensmittel aus gesäuertem Teig, Chametz genannt, zu verbrennen, was normalerweise auf zentralen Plätzen mit vielen Leuten gemacht wird. „Wie kann das anders gestaltet werden?“, fragt Malach.
Einige Richtlinien hat das Oberrabbinat bereits erlassen: Videokonferenzen zum Sederabend sind verboten. Diese würden gegen das jüdische Gesetz verstoßen. „Die Einsamkeit ist schmerzhaft und wir müssen eine Lösung dafür finden“, verkündete das Oberrabbinat.
Israels Gesundheitsminister Yakov Litzman, der selbst einer der konservativsten ultraorthodoxen Gemeinden angehört und vor zwei Wochen noch den Messias als Mittel gegen Corona ins Feld geführt hatte, rät seit Anfang dieser Woche zu rigorosen Maßnahmen und empfahl sogar, Bnei Brak abzuriegeln. Am Donnerstag wurde bekannt, dass Litzman selbst positiv auf das Coronavirus getestet wurde. Von einer Abriegelung Bnei Braks will Bürgermeister Rubinstein aber nichts wissen. „Verwandelt Bnei Brak nicht in ein Ghetto“, fordert er. „Eine Abriegelung wird die Krankheit nicht heilen.“
Ob abgeriegelt oder nicht: Der Sederabend am kommenden Mittwoch wird wohl der traurigste Auftakt zum Pessachfest seit Langem werden – für Eisenthal und die Ultraorthodoxen in Bnei Brak wie für die meisten Juden auf der Welt.
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