Ukrainische Stadt nach russischem Abzug: Der Schrecken bleibt
Einen Monat lang war Trostjanez im Osten der Ukraine von russischen Kämpfern besetzt. Sie hinterlassen Tote, eine zerstörte Stadt und viele Fragen.
D ie Zeugnisse schwerer Kämpfe und grausamer Kriegsverbrechen der russischen Truppen sind in Trostjanez allgegenwärtig: Der Platz vor dem Bahnhof liegt in Trümmern. Kein einziges Gebäude ist stehen geblieben. Betriebe wurden nieder gebrannt genauso wie Verwaltungsgebäude und mehrstöckige Wohnhäuser. Die in der ganzen Ukraine bekannte Schokoladenfabrik ist schwer beschädigt. Auch die Räume des Ende 2021 neu sanierten städtischen Krankenhauses sind zerstört.
Trostjanez liegt 350 Kilometer östlich von Kiew entfernt. Bis Charkiw sind es 130 Kilometer, bis zur russischen Grenze nur 30 Kilometer. Am 24. Februar hatten russische Truppen die Stadt besetzt. Doch nach der vorerst verhinderten russischen Offensive auf Kiew, mobilisierte Moskau auch seine Einheiten aus Trostjanez für die Fronten im Süden und Osten der Ukraine. Allein der Gedanke, sie könnten wieder zurückkommen, versetzt die Menschen hier in Panik.
Vera ist 64 Jahre alt und hat die Belagerung überstanden. Sie erzählt: „Die Russen gingen von einer Wohnung zur nächsten. Einem neunjährigen Jungen aus dem Nachbarhaus hielten sie eine Waffe an den Kopf.“ Sie hätten das Kind gefragt, wer Schewtschenko sei. Der Junge habe geantwortet: „Andrei Schewtschenko war Stürmer bei Dinamo Kiew, einen anderen Schewtschenko kenne ich nicht.“ „Klasse, Junge“, habe einer der Russen gesagt, erzählt Vera. Dann versagt ihr die Stimme: „Unter vorgehaltener Waffe … nur damit dieses Kind ja nicht unseren Dichter Taras Schewtschenko erwähnt.
Vera will ihren Nachnamen nicht nennen. Gemeinsam mit ihrem Mann wohnt sie in der Neskutschanski-Straße, unweit des Krankenhauses der Stadt. Während der russischen Besetzung wurde die Klinik mindestens von zwei Granaten getroffen.
Das Krankenhaus wurde beschossen
Nach Trostjanez seien verschiedene Gruppen russischer Soldaten gekommen, erinnert sich die Frau. „Die ersten waren noch ganz jung und kahl geschoren, wahrscheinlich Wehrpflichtige. Mit ihnen konnte man reden, sie waren nicht aggressiv. Sie wirkten irgendwie orientierungslos und verwirrt. Aber dann die zweiten und dritten, die waren schrecklich“, sagt Vera.
Ihr Mann Nikolai schaltet sich ein. Die zweite Gruppe, das seien alt gediente Soldaten gewesen, die dritte Gruppe, Einwohner der sogenannten Donezker Volksrepublik im Osten der Ukraine und russische Söldner. „Die bösartigsten waren die aus Donezk.“ Nikolai sagt, er habe mit einem der Besatzer ein Gespräch geführt. „Ich habe ihn gefragt, wie er hierher gekommen sei.“ Der Mann habe erzählt: „Sie nahmen einen nach dem anderen mit, auch Frauen, einfach alle, die im wehrfähigen Alter waren. Sie brachten uns zum Einberufungsbüro, verteilten Waffen. Dann ging es weiter zum Schießstand und von da aus direkt in den Kampf. Studenten, auch fünf junge Frauen waren dabei.“
Vera erinnert sich auch daran, wie russische Soldaten in ein benachbartes mehrstöckiges Haus gingen und Einheimische einfach zwangen, ihre Wohnungen zu verlassen – bei 15 Grad unter null. Unweit des Hauses errichteten die Besatzer einen Checkpoint, wo zwei Panzer standen und bewaffnete Soldaten Position bezogen.
Juri Bowa, Bürgermeister von Trostjanez, sagt, dass an einem weiteren Checkpoint beim Krankenhaus außer den Ärzt*innen niemand durchgelassen wurde. Von dem Ort, an dem der russische Checkpoint gestanden hat, weist Bürgermeister Bowa auf zwei riesige Löcher in der Wand des Krankenhauses. Zum Zeitpunkt des Beschusses hätten sich 30 Mitarbeiter*innen und zwölf Patient*innen in dem Gebäude befunden. „Während der Besatzung wurden hier sieben Kinder geboren, auf den Fluren, weil dauernd geschossen wurde“, sagt er.
Nach Angaben des Bürgermeisters hätten russische Truppen das Krankenhaus am 17. März ohne ersichtlichen Grund unter Beschuss genommen. Danach sei ein Offizier der russischen Armee gekommen und sei durch die Klinik gegangen, um sich zu vergewissern, dass es dort keine ukrainischen Soldaten gebe. Sechs Tage später hätten zwei Panzer die Klinik erneut angegriffen. „Am Abend des 23. März haben unsere Truppen einen russischen Panzer vom Typ T-80 mit einem Panzerabwehr-Granatwerfer gesprengt. Ich weiß nicht, was mit der Besatzung geschehen ist, aber zwei Tage danach haben wir ein Notizheft mit allen ihren Namen gefunden“, erzählt Bowa.
Er kann den Sinn des Angriffes nicht verstehen. Das Krankenhaus war eines der modernsten seiner Art in der Ukraine. Gleich nebenan stehen die Reste eines fünfstöckigen Gebäudes mit Wohnungen für die Mitarbeiter*innen der Klinik. Nach einem Angriff gingen Teile davon in Flammen auf.
Die ganze Stadt ist vermint
Während der Besatzung, sagt der Bürgermeister, seien 50 Menschen gestorben und 30 spurlos verschwunden. Sechs Leichen hätten Spuren von Folter aufgewiesen – ihnen seien die Augen ausgestochen oder die Hände auf dem Rücken gefesselt worden. Die genaue Todesursachen würden ermittelt. 30 bis 40 Menschen seien verletzt worden, 5 nach dem Abzug der russischen Truppen durch Minen umgekommen.
Bowa zeigt die Umgebung in der Nähe des Krankenhauses. Alle Büsche und Zugänge zu dem Checkpoint sind vermint. Auf dem Gelände eines Forstwirtschaftsbetriebes hätten sie eine Grube gefunden, dort seien Schaufeln zurückgelassen worden. Minenseile tauchten jeden Tag auf. Erst vor Kurzem sei ein junger Mann von einer Antipersonenmine zerfetzt worden.
„Sie haben auch den Friedhof vermint. 14 Tage lang durfte dort niemand beerdigt werden. Die Toten lagen herum. Die Leiche eines Mannes, den eine Mine getötet hatte, lag mehr als eine Woche in einer Garage“, sagt der Bürgermeister. Die russischen Soldaten hätten alles gestohlen. Was sie nicht hätten mitnehmen können, sei beschossen worden. Als ein humanitärer Korridor geöffnet worden sei, hätten sie alle Krankenwagen weggebracht – bis auf einen und den hätten sie unter Feuer genommen.
„Eine Frau wurde von einem Scharfschützen erschossen. Sie war einfach nur durch die Stadt gelaufen. Mehrere Tage lang lag der tote Körper auf der Straße, sobald sich jemand näherte, wurde der Ort beschossen. So haben sie versucht, die einheimische Bevölkerung zu verspotten und zu demoralisieren. Ein russischer Soldat warf einfach eine Granate, zwei Personen wurden getötet“, sagt Bowa. Auch Hilfsgüter und Lebensmittel hätten die Besatzer nicht in die Stadt gelassen, obwohl dort rund 12.000 Menschen lebten. Doch eins der schlimmsten Verbrechen seien die Angriffe auf das Krankenhaus gewesen.
Auf die Frage, ob die russischen Truppen kapiert hätten, dass sie nicht für eine Militärübung ins Land gekommen seien, sondern um Krieg zu führen, zeigt Bowa das Tagebuch eines Soldaten. „3. März, wir haben uns in der Stadt verschanzt. Alle haben verstanden, dass wir das tun müssen“, steht da geschrieben.
Der Zynismus der Angreifer
Während der Angriffe auf das Krankenhaus hielt sich dort auch die Chefärztin Anna Schwezowa auf. „Ab dem 24. Februar kamen Frauen auf die Geburtsstation, die außerhalb der Stadt leben. Sie hatten Angst, dass sie es sonst nicht mehr rechtzeitig in die Klinik schaffen würden. Es waren sechs oder sieben. Eine Geburt fand statt, als wir beschossen wurden. Wir verließen den Luftschutzkeller, die Fruchtblase platzte, die Wehen setzten ein und 20 bis 25 Minuten später ging es schon los. Alles ohne Wasser, ohne Licht und im Kalten, draußen herrschte Frost, minus 17 Grad. Wir schalteten den Generator ein, um uns etwas aufzuwärmen. Wir haben die Frau nicht im Kreißsaal, sondern im Untersuchungszimmer entbunden. Zum Glück hatten wir zwei Anästhesisten im Team, so konnten wir schnell und sicher zwei Mädchen auf die Welt holen“, sagt Schwezowa.
Derzeit bemühen sich die örtlichen Behörden, Fakten über russische Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung zu sammeln. Angaben des Direktors des staatlichen Ermittlungsbüros der Territorialverwaltung, Denis Mankowski, zufolge seien bislang erst 40 Prozent des Stadtgebietes untersucht, jedoch bereits viele Verbrechen dokumentiert worden. „Wir haben es mit Folter, Mord und Fällen von Hinrichtungen zu tun. Bis heute haben wir in Trostjanez 40 Gräber gefunden. Diese Verbrechen haben eindeutig Angehörige der russischen Streitkräfte begangen“, sagt Mankowski. Ihm zufolge hätten die Ermittler Listen mit Namen russischer Soldaten gefunden, die an den Kriegshandlungen in Trostjanez, in der Umgebung, aber auch in der Stadt Ochtyrka beteiligt gewesen seien.
Besonders viele Beweise gebe es von Folter an der Zivilbevölkerung. Die sei immer gleich abgelaufen: Einheimische – in der Regel Männer, die auf dem Weg zu einem Lebensmittelgeschäft waren – seien von der Straße weg festgenommen worden. Dann seien Papiere und Mobiltelefone überprüft worden.
Wenn etwas Verdächtiges gefunden worden sei, etwa Fotos von militärischer Ausrüstung, seien die Menschen festgenommen und in einen Keller gebracht worden. Einer dieser Keller habe sich auf dem Gelände des Bahnhofes befunden. Fünf Personen seien dort unter unmenschlichen Bedingungen festgehalten worden – angekettet oder die Hände hinter dem Rücken gefesselt, und das bis zu fünf Tage lang. Keiner dieser Leute habe etwas mit der ukrainischen Armee zu tun gehabt. „Dreimal pro Tag bekamen sie einen Schluck Wasser und ein Stück Gebäck. Die Toilette war ein Karton in einer Ecke des Kellers. Sie durften sich nicht bewegen. Sie wurden gefoltert und auf den Kopf und Oberkörper geschlagen, mit was auch immer: Gewehrkolben, Gummiknüppeln oder den bloßen Händen. Glücklicherweise haben alle überlebt“, sagt Mankowski.
Als sei ein Angriff nur ein Spiel
Nina Babina ist 63 Jahre alt und wohnt in einem dreistöckigen Haus gegenüber des Krankenhauses. In der Nähe ihrer Garage explodierte eine Mine. Den Angriff auf die Klinik habe sie nicht mit eigenen Augen gesehen, weil sich die Familie zu diesem Zeitpunkt im Keller aufgehalten habe, sagt sie. Dann zeigt sie ihr Haus und ihre Garage. Dort sind ein Auto und zwei Motorräder verbrannt. „Die Russen haben zu mir gesagt: Nimm das nicht so schwer, Mutter, wir sind gekommen, um dich zu beschützen.“ Auf ihre Frage vor wem, hätten sie geantwortet: „Eure werden kommen, euch vergewaltigen und töten. Und ich habe gesagt: Dass mal nicht ihr uns tötet, unsere werden das nicht tun.“
Im Stadtzentrum sitzt Vera Jachno auf einer Parkbank. Sie ist 69 Jahre alt, 34 davon hat sie direkt neben dem Krankenhaus gewohnt. Nach Hause gehen kann sie nicht, denn es wurde beschossen. „Für die Angreifer war das ein Spiel. 24 Wohnungen und so viele Treffer. Es wäre besser gewesen, sie hätten sich selbst das Gehirn aus dem Kopf gepustet“, sagt sie. Jachno lebt jetzt bei ihrem Schwiegersohn, dessen Haus weniger beschädigt wurde. Ihre Kinder sind ins Ausland geflüchtet.
Mit Grauen erinnert sie sich an den Tag, als sie Trostjanez über einen humanitären Korridor verließ. Am Checkpoint wurde das Auto, in dem sie saß, von einem russischen Soldaten gestoppt. Wo es denn hin ginge, habe er gefragt. „Wir antworteten: Nach Poltawtschino. Darauf er: Da kommen wir auch noch hin.“ Die 69-Jährige ruft: „Nein, genug dieser Arroganz und dieses Zynismus! Wie ich vergeben soll, ich weiß es nicht. Zwei Monate dauert dieser Horror nun schon und es gab keinen Tag, an dem ich nicht geweint habe.“ Ihre Augen füllen sich mit Tränen. „Warum das alles? Kann ein Mensch auf so eine Art und Weise wirklich 140 Millionen Menschen regieren?“
Der Autor war Teilnehmer eines Osteuropa-Workshops der taz Panter-Stiftung. Aus dem Russischen von Barbara Oertel.
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