Ukrainische Hafenstadt Odessa: Eine Stadt in Habachtstellung
Die ukrainische Hafenstadt Odessa liegt nicht an der Front, trotzdem ist der Krieg auch hier dauerpräsent. Ein Streifzug durch den Ort.
Doch das ist nur die Oberfläche. Zwar sind Richtung Hafen weniger Straßen abgesperrt als vor einem Jahr, aber es gibt noch die Sandsackbarrieren, an denen die Soldat:innen der Territorialverteidigung nur durchlassen, wer eine Erlaubnis hat. Um 10.45 Uhr gibt es am Mittwoch wieder Alarm. Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte seien ausgelaufen, die Marschflugkörper vom Typ Kalibr abfeuern können, heißt es in den lokalen Telegram-Kanälen. Abgesehen von einem kurzen Blick aufs Smartphone zeigen die meisten keine Reaktion. Nach anderthalb Stunden kommt die Entwarnung.
Sie habe sehr schlecht geschlafen, erzählt Katya. „Ich mache mir große Sorgen wegen der nuklearen Bedrohung.“ Am Vorabend hatte Präsident Selenski nochmals vor einem russischen Anschlag auf das Atomkraftwerk Saporischschja gewarnt. Von Odessa ist es rund 350 Kilometer Luftlinie entfernt. „Ich habe keine Jodtabletten“, sagt sie. Die Tabletten sollen die Aufnahme von radioaktivem Jod in der Schilddrüse blockieren. „Ich habe die Russen so satt.“ Sie hoffe auf die Gegenoffensive der ukrainischen Armee. „Es ist aber noch zu früh, um ein Ergebnis zu beurteilen.“
Wie schnell der Krieg auch in der Schwarzmeerstadt real werden kann, sieht man in der Schewtschenko-Allee. Für einen Wochentag ist es sehr ruhig. Nur zwei etwa zwölfjährige Jungen drehen ein paar Runden mit dem Fahrrad auf einem Parkplatz. Der ist eigentlich abgesperrt, aber das Flatterband hat dem Wind offenbar nicht standgehalten. Nur ein einzelner ausgebrannter Kleinwagen steht dort vor einem elfstöckigen Gebäude.
Am Meer lauern die Minen
Der Raketeneinschlag in der achten Etage ist gut zu erkennen. Dort sind Wände herausgerissen und rußgeschwärzt. Die Betondecke zur neunten Etage sieht aus, als wäre ein Stück herausgebissen worden. In dem Bürogebäude mit Läden in den unteren Etagen ist alles demoliert. Drei Menschen wurden bei dem Angriff Mitte Juni hier verletzt. In einem Lagerhaus kamen in derselben Nacht drei Mitarbeiter ums Leben.
Taxifahrer Valentin schnauft bei der Frage nach der Gegenoffensive. Erst will er nicht so richtig reden, dann legt er doch los. Er komme aus der teilweise besetzten Region Cherson. Frau und Kinder seien im Westen der Ukraine. Um Geld zu verdienen, fahre er nun in Odessa Taxi. Natürlich wolle er, dass seine Heimat wieder befreit werde. Aber das sei eben nicht einfach. Russland habe eine große Armee. Er wolle nicht unhöflich sein und sei dankbar für die Hilfe auch aus Deutschland. „Ich denke, es wäre einfacher, wenn wir mehr Waffen bekommen hätten. Kampfflugzeuge zum Beispiel.“
Regisseurin Yelisaveta verbringt ein paar Tage zuvor ein paar Stunden am Strand. Ans Meer selbst darf man nicht wegen der Minengefahr und der Wasserverschmutzung, nachdem die russische Armee den Kachowkastaudamm gesprengt hat. Aber immerhin ihr sechsjähriger Sohn könne im Pool planschen. „Da kann ich nicht nein sagen.“ Auch sie macht sich Gedanken über die radioaktive Bedrohung. „Das zeigt, dass Russland einen Erfolg der Gegenoffensive fürchtet.“
Viele ihrer Freunde und Bekannten seien in den vergangenen Monaten zur Armee mobilisiert worden. „Die meisten sind noch in der Ausbildung, einige in Nato-Ländern, andere in der Ukraine.“ Sie habe den Eindruck, dass gründlich ausgebildet werde und viele Einheiten noch gar nicht an der Gegenoffensive beteiligt seien. Es gehe auch nicht darum, schnell zu sein, sondern mit möglichst wenig Opfern voranzukommen. „Russland hatte viel Zeit, sich vorzubereiten. Sie haben so viele Minen gelegt.“ Die müsse man erst mal beseitigen.
Um 13.56 Uhr heulen wieder die Sirenen in Odessa. Strategische Bomber Russlands hätten laut der ukrainischen Luftwaffe in der Nähe des Kaspischen Meeres Marschflugkörper Richtung Osten und Süden der Ukraine gestartet, kann man auf Telegram lesen. Zumindest, wenn man auf sein Handy schaut.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Deutungskampf nach Magdeburg
„Es wird versucht, das komplett zu leugnen“
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Rechte Gewalt in Görlitz
Mutmaßliche Neonazis greifen linke Aktivist*innen an
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Gedenken an den Magdeburger Anschlag
Trauer und Anspannung
Aktionismus nach Magdeburg-Terror
Besser erst mal nachdenken