Ukrainische Gegenoffensive: Rückkehr mit Vorsicht

Ukrainische Truppen befreien um Charkiw immer mehr Städte und Dörfer. Dort stoßen sie auf Minen und andere schreckliche Überraschungen.

Flammen und Rauch im Dunkeln

Explosionen in Charkiw am frühen Morgen des 8. Oktober Foto: Francisco Seco/ap/dpa

Charkiw taz | Seit rund einem Monat läuft im Gebiet Charkiw die Gegenoffensive der ukrainischen Streitkräfte. Seitdem wurden nach Angaben der lokalen Behörden 525 der insgesamt 576 ehemals russisch besetzten Siedlungen in der Region befreit. 51 Siedlungen im Osten des Gebietes stehen noch unter Kontrolle der russischen Armee und damit 2,9 Prozent aller Siedlungen des Gebietes. Die Russen kontrollieren vor allem das Gebiet östlich der Stadt Kupjansk. Der Norden des Gebietes Charkiw ist vollständig befreit.

Die militärische und politische Führung der Ukraine hatte nie die Absicht, die Grenze nach Russland zu überschreiten. Darum kontrolliert die ukrainische Armee jetzt zwar Grenzübergänge, ist aber nicht weiter auf russisches Gebiet vorgestoßen. Die Russen jedoch beschießen weiterhin Charkiw und Umgebung, wenn auch nicht mehr so intensiv. Sie benutzen dafür vor allem Raketen, meist umgerüstete sowjetische Boden-Luft-Raketensysteme vom Typ S-300 und in Iran hergestellte Shahed-Kamikaze-Drohnen.

So hat am 10. Oktober die Armee von Wladimir Putin von russischem Staatsgebiet aus fünf Raketenangriffe auf Charkiw und einige weitere auf das rund 60 Kilometer südlich der Stadt gelegene Kohlekraftwerk Smijiw verübt. Alle Raketen zielten auf Objekte der Energieversorgung und der kritischen Infrastruktur (Hochspannungsleitungen, Umspannwerke, Heizkraftwerke u. ä.). Öffentlichen Angaben zufolge wurde dabei kein einziges militärisches Objekt beschädigt bzw. war überhaupt Ziel russischer Angriffe. Infolge des Angriffs war die gesamte Region Charkiw etwa 12 Stunden lang ohne Strom, Telefonverbindung und Wasserversorgung. Es dauerte insgesamt zwei Tage, bis alles wieder funktionierte.

Die ukrainische Armee hat mittlerweile die wichtigsten Städte im Gebiet Charkiw – Wowtschansk, Kupjansk, Balaklija, Borowa, Isjum – sowie die Dörfer Kosatscha Lopan, Petschenihy und Welykyj Burluk zurückerobert. In allen größeren Ortschaften bietet sich nach der Befreiung das gleiche Bild. Überall haben die Russen Gefängnisse und Folterkammern für pro-ukrainische Bürger, Aktivisten und Ex-Angehörige der Anti-Terror-Operation (ATO) eingerichtet. In der Nähe sind auch immer Grabstätten für ermordete ukrainische Staatsangehörige.

Gefesselte Leichen

So fand die Polizei in der vergangenen Woche drei an den Händen gefesselte Leichen in Zivilkleidung, die Anzeichen eines gewaltsamen Todes aufwiesen, unweit der Stadt Borowa in einer Ferienanlage. Dort war zuvor eine Einheit der russischen Armee stationiert. Nach Aussagen zahlreicher Bewohner der befreiten Regionen im Gebiet Charkiw haben russische Soldaten zudem im großen Maßstab geplündert.

Auch die humanitäre Lage in den zurückeroberten Orten ist bedrückend. Die Menschen in den besetzten Gebieten haben seit sieben Monaten keinen Lohn mehr bekommen, Apotheken und Geschäfte waren fast überall geschlossen.

An den Kiosken, die immerhin noch Waren aus Russland erhielten, waren die Preise um ein Vielfaches höher als der ukrainische Durchschnitt. So kostete z.B. in Borowa ein halber Liter in Russland produzierte Coca-Cola 70 Hrywnja, umgerechnet 1,75 Euro. In normalen ukrainischen Supermärkten hingegen ist er für nur 25 Hrywnja, also etwa 60 Cent zu haben.

Im Verlauf von zwei, drei Wochen hat die ukrainische Verwaltung in den befreiten Orten die Strom- und Wasserversorgung sowie die Telefonverbindungen wieder hergestellt. Am 13. Oktober wurde die Stadt Isjum, in der eine der größten Gruppen russischer Soldaten stationiert gewesen war, wieder ans Stromnetz angeschlossen. Die Ukrainische Post, Ukrposhta, über die die Menschen Zahlungen wie Rente und Gehälter bekommen, nimmt in den Dörfern und Städten die Arbeit wieder auf. Zurzeit warten die Menschen noch darauf, dass die Gasversorgung wieder funktioniert, damit sie bis zum Winter in ihre Häuser zurückkehren können.

Doch nach wie vor ist es auch in den Regionen Gebietes Charkiw, in denen man aktuell von dem Beschuss nichts mehr mitbekommt, gefährlich. Wegen der fortgesetzten Raketenangriffe, aber auch, weil die abziehenden Russen ihre ehemaligen Stellungen sowie die Dörfer fast alle vermint haben, um den Vormarsch der ukrainischen Armee zu verlangsamen. Das Gebiet Charkiw gilt heute als eine der am stärksten verminten Regionen der Ukraine. Darum rufen die Behörden die Menschen dazu auf, erst nach der vollständigen Minenräumung nach Hause zurückzukommen. Eine überstürzte Rückkehr kann hier immer noch lebensgefährlich sein.

Aus dem Russischen Gaby Coldewey

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.