Ukraine abseits des Bürgerkriegs: Die Flüchtlinge auf dem Land
Flüchtlinge in der Ukraine kommen aus den umkämpften Städten im Osten in die sicheren Dörfer nahe Kiew. Dort ist es idyllisch.
KIEW taz | Fast leer ist der Kleinbus, der von der Kiewer Metrostation „Charkiwska“ Richtung Rogosiv startet. Eine Seltenheit in einer Stadt, in der sich die Fahrgäste in den öffentlichen Verkehrsmitteln in der Regel näher kommen als ihnen lieb ist. Doch wer will schon nach Rogosiv, ein Dorf mit 3.000 Einwohnern?
An der Bushaltestelle „Laura“ in Rogosiv ist es vorbei mit dem Luxus einer geteerten Straße. „Gut, dass wir noch Temperaturen unter Null haben“, sagt Alexander Lewko hinter dem Steuer eines Kleinbusses, den die örtliche Näherei den Binnenflüchtlingen zur Verfügung gestellt hat. „Mit Einsetzen des Tauwetters ist auf dieser Straße mit dem Auto keine Durchkommen mehr.“ Er deutet auf die vielen vereisten Schlaglöcher, die sein Wagen bei diesen Temperaturen noch mühelos überwinden kann.
In Rogosiv, einem verschlafene Nest 30 Busminuten von Kiew entfernt, scheint das Leben stillzustehen. Irgendwo kräht ein Hahn, ein Traktor tuckert Richtung Ortsausgang, Landluft. Nichts ist zu spüren von der gehetzten Stimmung, die die Großstadt Kiew prägt. Die Menschen leben von der Landwirtschaft oder arbeiten in der Näherei. Reich scheint hier niemand zu sein, die kleinen Häuser sind zum großen Teil renovierungsbedürftig.
Der Mystiker mit den Boxsäcken
In der Otechestvennaja Strasse Nr. 2, der Vaterländischen Straße, hält Alexander den Wagen vor einem geschlossenen Terrain an, öffnet mit einem Schlüssel das große Holztor. Hinter dem Tor tut sich eine neue Welt auf: ein Dorf in einem Dorf, groß wie ein Fußballfeld. Die geschlossene Wohnsiedlung gehört der örtlichen Näherei und beherbergt derzeit 35 Binnenflüchtlinge aus Donezk und Lugansk. Neben zwei Rohbauten, die wohl immer Rohbauten bleiben werden, ein zweistöckiges Haus, das einst Wohnung für die Angestellten der Näherei war.
Doch zunächst führt Alexander den Besucher zu einem der beiden Rohbauten. Hier im zweiten Stock baut er sich eine kleine Firma auf. Alexander produziert Trainingssäcke für Boxer. Zwei Dutzend Sandsäcke unterschiedlichster Größe und in Leder verpackt hängen von den Decken. Der umtriebige blonde Mann kann nie ruhig an seinem Platz sitzen. Auch in seiner Heimat, in Lugansk und Slawjansk, hatte er Sportgeschäfte betrieben. Nun hofft er, in Kiew Abnehmer für seine Boxsäcke zu finden.
Die Hilfsorganisation "Vostok-SOS" nennt zwei Zahlen für die Binnenflüchtlinge in der Ukraine: Unter Berufung auf offizielle Quellen seien es fast eine Million. Tatsächlich, so Alexandra Dworezka von Vostok-SOS (zu Deutsch "SOS-Osten"), dürfte die Zahl doppelt so hoch sein. Wer vom Staat keine Rente und kein Kindergeld brauche, lasse sich nicht registrieren.
Lediglich 5 Prozent aller Binnenflüchtlinge aus der Ostukraine oder der Krim leben laut Dworezka in einer Einrichtung des Staats. Meistens in kleinen Dörfern ohne Schulen, Kindergärten und Internet. Vostok-SOS hat nach eigenen Angaben 14.000 Menschen eine neue Bleibe verschafft.
Präsident Petro Poroschenko kündigte am Freitag eine Truppenverstärkung im Krisengebiet Ostukraine an. In einem ersten Schritt würden zusätzliche 50.000 Ukrainer bewaffnet, meldet die Nachrichtenagentur dpa. Im gesamten Jahr soll die Zahl der Soldaten um 104.000 steigen.
Alexander sieht vom Balkon, an dem das Geländer fehlt, auf die Gärten. Irgendwann sei er auf die schiefe Bahn gekommen. Das sei vor einigen Jahren gewesen. Da habe er geraucht, getrunken, Drogen konsumiert, und „noch ein paar andere unmoralische Dinge gemacht“. Doch dann habe er sich zum christlichen Glauben bekehrt, habe sich einer Gemeinschaft christlicher Mystiker in Lugansk und Slawjansk angeschlossen. Dort habe er Drogenabhängigen geholfen, von ihrer Sucht wegzukommen. Nach seiner Flucht vor dem Krieg seien seine Kontakte zu weiteren christlichen Mystikern unentbehrlich gewesen. Ein Glaubensgenosse, der Inhaber der Näherei von Rogosiv, habe sich sofort bereit erklärt, die weitgehend leerstehenden betrieblichen Wohnungen Binnenflüchtlingen zur Verfügung zu stellen.
Alexander verlässt die Räume mit den Boxsäcken an den Decken und betritt das benachbarte Wohnhaus. Direkt am Eingang prangt in farbiger Schrift eine Einladung zur regelmäßigen Morgenandacht. „Wir drängen niemandem unseren Glauben auf, aber wir bieten allen, die hier wohnen, ein religiöses Angebot von Gebeten und Vorträgen.“
Das ganze Haus ist äußerst ordentlich, sauber, die neuen Tapeten sind licht und hell. Es scheint erst seit kurzem renoviert zu sein. Ein Putzplan in der Küche bestimmt, wer wann für die Sauberkeit auf der Treppe und in den Gängen zuständig ist.
Über 1.000 Flüchtlinge waren schon im Dorf
Dicht gedrängt teilen sich hier 35 Menschen aus dem Osten des Landes auf engem Raum zwei Küchen, vier Toiletten und zwei Dusch- und Waschräume. Sie scheinen sich auf eine längere Zeit in Rogosiv einzurichten. Für viele andere war Rogosiv nur ein Durchgangsort gewesen. Über tausend Binnenflüchtlinge hätten Rogosiv passiert, bevor sie von Alexander und seinen Freunden in andere Orte der Ukraine weitergeschickt worden waren.
Sehnsüchtig sieht die 55-jährige Galina auf die Gärten und Felder vor dem Haus. Zu Hause in Lugansk hatte sie einen eigenen Garten. Liebend gerne würde sie auch hier etwas anbauen. Die 60 Euro Rente und 45 Euro Flüchtlingsbeihilfe reichen kaum zum Essen. Mit einem eigenen Garten könnte sie nicht nur für die Küche ihren Anteil beisteuern, sondern vielleicht auch Gemüse oder Obst auf dem Markt verkaufen, glaubt sie. Trotzdem ist Galina zufrieden. „Ich weiß, dass ich privilegiert bin. Hier haben wir eine Heizung, hier ist es sauber und bezahlen müssen wir nur für Wasser und Strom. Andere Flüchtlinge müssen unter weit schlechteren Bedingungen leben.“ Auch die Kinder in der Unterkunft an der Otechestvennaja Strasse haben Glück, sie können einen Kindergarten oder die örtliche Schule besuchen.
Allmählich zeigt sich, wie brüchig der Pariser Anschlag Frankreich gemacht hat. „Die Muslime werden dafür teuer bezahlen“, sagt Bestseller-Autor Taher Ben Jelloun in der Titelgeschichte der taz.am wochenende vom 17./18. Januar 2015 Und: „Charlie Hebdo“ spottet weiter: ein weinender Mohammed auf der Titelseite, im Heft Scherze über Dschihadisten. Die Streitfrage „Muss man über Religionen Witze machen?“ Außerdem: Keine Angst vor Hegel. „Viele denken, sie müssten das sorgfältig durchstudieren, wie über eine lange Treppe aufsteigen. Ich finde, man kann auch mittendrin irgendetwas lesen.“ Ein Gespräch mit Ulrich Raulff, dem Leiter des deutschen Literaturarchivs in Marbach. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.
Galina ist Russin und in der Millionenstadt Tscheljabinsk am Ural aufgewachsen. Ihr gesamtes erwachsenes Leben hat sie in Lugansk verbracht. Ihre Heimat ist die Ukraine. Bis vor kurzem war auch ihre Mutter in Rogosiv. Doch dann habe sich die Mutter wieder zur Rückkehr nach Lugansk entschlossen. Seit ihrer Krebsoperation habe diese einen künstlichen Ausgang. Deswegen brauche sie ein eigenes Zimmer, könne nicht in einem Schlafsaal leben. Doch ein eigenes Zimmer konnte man ihr in Rogosiv nicht bieten. Deswegen sah sie sich gezwungen, nach Lugansk zurückzukehren, wo sie eine Wohnung für sich allein habe.
Ihr Mann verdient Geld im Kampfgebiet
Auch ihr Mann, berichtet Galina, sei in Lugansk geblieben. Er lebe von der Landwirtschaft und dies könne man gerade in Zeiten der Wirtschaftsblockade gut. Derzeit gelangten kaum Lebensmittel von der Außenwelt nach Lugansk. Aber sie habe ständig Angst um ihn. Das gemeinsame Wohnhaus liege direkt an einer Straße, die viel von den Militärs der Aufständischen befahren werde. Und jedes Mal, wenn er mit seinen Waren zum Markt in Lugansk fahre, setze er sich einer erhöhten Gefahr aus.
„Noch vor einer Woche habe ich in Donezk gewohnt, direkt im vierten Stock eines fünfstöckigen Hauses am Rande der Stadt.“ berichtet Wladimir Lebedenko. „Den vierten Stock unseres Hauses gibt es nicht mehr.“ Seine Frau Olga und er hätten sich der Kinder wegen zur Flucht nach Kiew entschieden. „Meine Kinder haben seit dem Sommer fast die gesamte Zeit im Keller verbracht, 24 Stunden am Tag. Nachdem wir begriffen hatten, dass unsere Wohnung nicht mehr existierte, haben wir Alexander in Rogosiv angerufen“, so der 28-jährige Fabrikarbeiter. Jetzt habe er erst einmal das dringende Bedürfnis, eine Arbeit zu finden. Hier im Dorf sei das nicht möglich. Aber wie? Busfahrten zur Arbeitssuche nach Kiew könne er sich nicht leisten. Obwohl es nur eine halbe Stunde wäre.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“