Überschuldung in Deutschland: Keine Zahlen zur Zahlungsnot
Bis zu sieben Millionen Menschen sind in Deutschland überschuldet. Die Organisation Finanzwende Recherche will gegensteuern – mit besseren Daten.
„Bislang fehlt der politische Wille, wirklich hinzusehen“, sagt Michael Möller, Autor der Studie, die der taz vorliegt. Finanzwende Recherche ist eine Tochter des Vereins Finanzwende, der von dem ehemaligen grünen Bundestagsabgeordneten Gerhard Schick gegründet wurde und der sich für eine Reform der Finanzmärkte einsetzt. Genaues Hinschauen ist allerdings wichtig, um ein Problem lösen zu können und zu wollen.
Durch die Existenz etwa von anerkannten Arbeitslosenzahlen werde das Problem der Erwerbslosigkeit angemessen betrachtet, sagt Möller. Die Regierung werde auch an der Senkung dieser Zahl gemessen. Doch bei Menschen, die Rechnungen nicht mehr begleichen können und hohe Schulden haben, sei das anders. „Es gibt keine amtliche Zahl, die Auskunft über die Überschuldungslage in Deutschland gibt“, erklärt Möller, der Referent für Geldanlage und Kredit bei Finanzwende Recherche ist.
Viele Menschen kommen unverschuldet in Zahlungsnot, etwa durch Krankheit, Arbeitslosigkeit, Verlust des Partners oder zu geringe Einkommen – und nicht in erster Linie durch schlechtes Haushalten. Die Folgen sind gravierend, nicht nur finanziell. Vielen Betroffenen droht soziale Isolation, zum Beispiel weil sie sich gemeinschaftliche Aktivitäten nicht mehr leisten können. „Überschuldung ist ein gesellschaftliches Problem“, betont er. Deshalb seien auch gesellschaftliche Lösungen erforderlich.
7 Millionen Überschuldete
Schätzungen des Bonitätsprüfers Creditrefom zufolge sind 5,5 Millionen Menschen überschuldet. Aber möglicherweise gibt es sehr viel mehr Menschen, die ihre Rechnungen nicht bezahlen können. Manche Expert:innen gehen von mehr 7 Millionen aus. „Die Frage ist, wie man zählt“, sagt Möller. Damit politische Entscheider:innen das Problem der Überschuldung besser einschätzen können, plädiert er dafür, vorerst statt einer Zahl fünf Indikatoren zu betrachten.
Das sind die von der Auskunftei Schufa erfassten Personen mit Zahlungsproblemen sowie die Zahl der Energiesperren und -androhungen, der Insolvenzverfahren von Verbraucher:innen, der Konten mit Pfändungsschutz und der Personen in einer Schuldenberatung.
Möller fordert, dass diese Indikatoren mehrfach jährlich gemeinsam veröffentlicht werden – als Frühwarnsystem. So könne die politische Diskussion über Überschuldung und vor allem die Maßnahmen dagegen auf ein besseres Fundament gestellt werden. Finanzwende Recherche selbst macht dazu in der Studie keine Vorschläge.
Bei einem der Indikatoren ist die Datenlage allerdings noch nicht gut: den Personen in einer Schuldenberatung. Es gibt in Deutschland 1.380 staatlich anerkannte oder geförderte Beratungsstellen für Menschen in Zahlungsnot. Aber nicht alle Stellen melden, wie viele Personen sie beraten.
Auch welche Angebote es wo gibt, wird ebenso wenig vollständig erhoben wie die Zahl der Personen, die gerne ein Beratung hätte, aber aus Kapazitätsgründen keine bekommen. „Stand heute sind weder der Beratungsbedarf noch das Beratungsangebot in Form von personeller und finanzieller Ausstattung der Beratungsstellen bekannt“, heißt es in der Studie.
Pandemie und Inflation
Finanzwende Recherche schlägt vor, dass Beratungsstellen melden müssen, wie sie personell und finanziell ausgestattet sind, wie ihre Angebote angenommen werden und wie groß die Nachfrage darüber hinaus ist. „Zur Erfüllung solcher Pflichten müssen sie natürlich über genügend Ressourcen verfügen“, sagt Möller. Das gilt auch für die generelle Arbeit der Beratungsstellen.
Denn der Bedarf ist offenbar höher als die Inanspruchnahme, auch weil die Zahl der überschuldeten Menschen durch die Pandemie und Inflation vermutlich deutlich zugenommen hat. „Schätzungsweise weniger als 10 Prozent aller Menschen mit Zahlungsnot sind überhaupt in einer Beratung“, sagt Möller.
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