Überlastete Sozialämter: „Das ist totaler Unsinn“
Berlins Sozialämter arbeiten überm Limit. Neuköllns Sozialstadtrat Hannes Rehfeldt erklärt, warum, was hilft – und was das mit Papierakten zu tun hat.

taz: Herr Rehfeldt, Sie haben zusammen mit den anderen elf Bezirksstadträten für Soziales einen „Brandbrief“ an den Senat geschrieben, weil die Sozialämter so überlastet sind, dass manche Menschen Monate auf ihre Leistungen warten müssen. Woran genau hapert es?
Hannes Rehfeldt: Es ist ein Mix aus vielen Dingen. Einmal die vielen neuen Fälle aufgrund des Ukrainekrieges. Dann haben wir einen Anstieg der Fallzahlen im Bereich der Grundsicherung und bei der Hilfe zur Pflege. Dazu kommen die ganzen Asylthemen. Wir haben es auch insgesamt mit einer komplexer werdenden Sachbearbeitung zu tun, mit sich immer wieder ändernden rechtlichen Rahmenbedingungen. Dazu kommt eine hohe Personalfluktuation aufgrund von Arbeitsbedingungen, die nicht optimal sind.
taz: Wie hoch ist bei Ihnen die Fallzahl pro Mitarbeiter?
Rehfeldt: Selbst wenn alle da wären, müsste bei uns jeder Mitarbeiter in Vollzeit circa 270 Akten betreuen. In der Spitze, und das ist gar nicht mal so selten, hat ein Sachbearbeiter auch mal über 500 Akten. Letztens hatten wir einen Fall, da mussten zwei Mitarbeiter mit 1.800 Akten arbeiten. Was sie natürlich nicht schaffen.
Ende Juni schrieben die zwölf Sozialstadträte einen „Brandbrief“ an die Senatssozialverwaltung mit der Forderung nach mehr Personal aufgrund gestiegener Fallzahlen. Der Grund: Immer mehr Menschen brauchen Grundsicherung oder Leistungen als Asylbewerber. In manchen Bezirken gebe es Bearbeitungszeiten von bis zu sechs Monaten und „Bearbeitungsstaus“ von mehreren hundert Fällen, heißt es in dem Brief, der der taz vorliegt. Die Stadträte fordern vom Senat mindestens die Entfristung von 155 Stellen, die wegen des Ukrainekrieges seit 2022 bewilligt und seither immer wieder verlängert wurden. Das allein sei aber nicht ausreichend. Für eine „angemessene Personalausstattung“ brauche es in den Haushaltsberatungen eine Zusage, damit die Bezirke für die Zukunft planen können. In der Vergangenheit gab es bereits mehrere Briefe mit diesem Tenor, zuletzt im Januar 2025. (sum)
taz: Was bedeutet „in der Spitze“?
Rehfeldt: Wenn jemand Urlaub hat oder krank ist, müssen andere Mitarbeiter die Akten übernehmen. In Neukölln gelingt es zwar meist, alle Stellen zu besetzen, das ist nicht in allen Bezirken so. Aber die hohe Fluktuation, verbunden mit langen Besetzungsverfahren, führt zu langen Lücken in der Stellenbesetzung. Mit einem halben Jahr muss man rechnen, allein die Beteiligung der Beschäftigtenvertretung dauert zwölf Wochen pro Ausschreibung.
Hannes Rehfeldt, geboren 1986, CDU, ist seit 2 Jahren Sozialstadtrat von Neukölln. Nach seinem freiwilligen Wehrdienst studierte er Öffentliche Verwaltungswirtschaft an der Fachhochschule für Verwaltung und Rechtspflege (FHVR) sowie der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin (HWR). Seit 2012 arbeitet er im Neuköllner Bezirksamt.
taz: Wie muss man sich das vorstellen, wenn zwei Leute 1.800 Akten zu bearbeiten haben?
Rehfeldt: Sie sind für die Menschen hinter den Akten zuständig – für jede Vorsprache, die kommt. Weil die Leistungsberechtigten zu Recht einen Anspruch haben, dass ihr Lebensunterhalt gesichert ist. Die Mitarbeiter müssen im Zweifel jede Akte anfassen, wenn die Leistungsberechtigten eine Nebenkostenabrechnung einreichen oder die Versicherung teurer geworden ist oder einfach nur eine Frage haben. Das geht schon bei 300 Akten nicht, bei 1.800 gleich gar nicht.
taz: Was ginge denn?
Rehfeldt: Die Sozialamtsleiter haben berechnet, dass ein Schlüssel von 1:188 in der Grundsicherung eine gute Sachbearbeitung ermöglicht.
taz: Dass also ein Sachbearbeiter 188 Fälle betreut?
Rehfeldt: Genau. Dann kann man auch Vertretungen regeln, und wenn mal jemand ungeplant ausfällt, ist das steuerbar. Aber aktuell ist es so, dass wir von einer hohen Basis ausgehen und Vertretungen noch oben drauf kommen. Im Zweifel muss man nicht nur einen vertreten, sondern auch die Vertretung der Vertretung. Als ich vor zwei Jahren das Amt übernahm, saßen mir Kollegen gegenüber, die das seit vielen Jahren machen, sie sagten mit Tränen in den Augen: „Ich kann nicht mehr.“ Das sagt schon viel. Die sind nicht weinerlich, die machen auch unter schwierigen Rahmenbedingungen einen guten Job. Aber es wird immer schwieriger für sie. Jeder kommt irgendwann an seine Grenzen. Zudem gibt es inzwischen beinahe wöchentlich Übergriffe gegen meine Kolleginnen und Kollegen.
taz: Von Kunden?
Rehfeldt: Von Kunden, die verzweifelt sind oder psychisch krank oder in einer Ausnahmesituation. Das geht von Beleidigungen bis hin zu Tätlichkeiten. Es geht um Sätze wie: „Ich weiß, wann du Feierabend hast. Ich warte vor der Tür.“ Das ist natürlich belastend. Trotzdem machen sie den Job, denn sie wollen den Menschen helfen. Und das Bezirksamt tut sein Bestes, unsere Leute auch zu schützen. Nicht umsonst haben wir einen Wachschutz im Amt für Soziales.
taz: Laut dem Brandbrief gibt es in manchen Bezirken – Pankow, Mitte und Charlottenburg-Wilmersdorf – aber auch Bearbeitungszeiten von bis zu sechs Monaten. Das heißt, Betroffene müssen ein halbes Jahr auf ihre Leistungen warten.
Rehfeldt: Ja, das kommt vor. Besonders im Bereich Hilfe zur Pflege kann es manchmal dauern – auch weil Unterlagen fehlen oder nicht rechtzeitig abgegeben werden. Dann landet ein Fall wieder unten im Stapel.
taz: Wie viele Mitarbeiter hat denn das Neuköllner Sozialamt zurzeit? Und wie viele bräuchten Sie?
Rehfeldt: Die Gesamtzahl bisher ist 151 über alle Bereiche des Amts für Soziales, knapp 140 davon sind in der Sachbearbeitung. Wir bräuchten zusätzlich ungefähr 52 Vollzeitäquivalente, um eine Fallrate zu erreichen, die verträglich ist. Alle Amtsleiter haben ihren Bedarf jeweils nach einheitlichem Muster ausgerechnet, übrigens nicht Pi mal Daumen, sondern jeder hat geguckt, welche Arbeiten fallen an, was muss man abziehen wegen Krankheit, Urlaub, Weiterbildung. Über alle Bezirke hinweg kommt so die enorme Zahl von 673 Vollzeitstellen zusammen.
taz: Nichts für ungut, aber wo sollen die herkommen?
Rehfeldt: Dass wir die nicht bekommen, ist schon klar. Aber wir müssen uns endlich in eine Richtung bewegen, die die enorme Belastung der Kolleginnen und Kollegen in den Ämtern anerkennt. Wenn die zusammenbrechen, leiden die Schwächsten unserer Stadt darunter.
taz: Was ist aus den zusätzlichen Stellen geworden, die den Sozialstadträten 2024 vom Senat zugesagt wurden?
Rehfeldt: Die 155 Stellen, die seit der Fluchtbewegung aus der Ukraine zur Verfügung gestellt wurden, sind nur befristet – sogenannte Beschäftigungspositionen, kurz: BePos. Sie wurden in den vergangenen Jahren immer wieder verlängert, mal um ein paar Monate, zuletzt bis Ende 2025. Jetzt sind wir wieder in der Diskussion, was mit ihnen passiert. Das sind keine tragfähigen Strukturen.
taz: Wie wahrscheinlich ist es, dass Sie in Neukölln wenigstens einen Teil der nötigen 52 Vollzeitstellen bekommen?
Rehfeldt: Es gibt zurzeit im Rahmen der gesamtstädtischen Zielvereinbarungen zwischen Land und Bezirken nochmal eine Personalbedarfsermittlung, um zu schauen, wie viele wir wirklich brauchen. Das kann auch weniger sein als das, was die Amtsleiter ausgerechnet haben. In jedem Fall ist es aber mehr als null. Die Zielvereinbarung soll Ende des Jahres fertig sein. Das Problem ist nur: Das ist zu spät für den nächsten Doppelhaushalt, der jetzt gerade verhandelt wird. Darum wollen wir, dass Vorsorge getroffen wird. Unser zusätzlicher Bedarf muss jetzt schon im Haushalt drinstehen, zumindest als Platzhalter. Als Minimum verlangen wir, dass die BePos entfristet werden.
taz: Wie viele sind das?
Rehfeldt: In Neukölln hatten wir ursprünglich 10,5 Stellen seit 2022. Bei der letzten Verlängerung der BePos, das war 2024 bis Ende 2025, wurden aber nur die tatsächlich besetzten verlängert. Das sind sechs in meinem Amt. Die anderen konnten wir nicht besetzen – eben weil sie befristet sind. Eine Ausschreibung dauert ein halbes Jahr. Und die, die da sind, müssen sich drei Monate, bevor der Vertrag ausläuft, beim Jobcenter wieder arbeitssuchend melden. Wer will schon alle paar Monate um seinen Job bangen?
taz: Aber der Senat wird sagen: Irgendwann ist der Ukrainekrieg vorbei, dann gehen die meisten Flüchtlinge zurück, dann brauchen wir die Jobs nicht mehr.
Rehfeldt: Ich würde mich auch freuen, wenn der Krieg vorbei ist und die Menschen in ihre Heimat zurück können. Allerdings hat sich damit der Bedarf in den Sozialämtern nicht erledigt. Die Gefahr, dass wir bald zu viele Mitarbeiter haben, besteht nicht. Die geburtenstarken Jahrgänge kommen jetzt ins Rentenalter, also auch ins Alter der Grundsicherung und in pflegebedürftiges Alter. Daher erwarten wir einen Fallzahlenanstieg. Das sagt auch die Senatsfinanzverwaltung und gibt uns mehr Mittel für Geldleistungen an Betroffene. Nur zieht sie daraus bisher keine Konsequenzen in der Personalausstattung. Wir bekommen also mehr Geld, aber kein Personal, das es auszahlen kann.
taz: Gerade wurde bekannt, dass die Digitalisierung der Sozialämter gescheitert ist. Überrascht?
Rehfeldt: Wir warten händeringend auf die Digitalisierung. Aber dieses Sozialhilfeportal, das jetzt wegen technischer Probleme nach sechs Jahren und über sechs Millionen Euro Kosten aufgegeben wurde, war in dieser Form ungeeignet. Was wir brauchen, ist eine umfassende digitale Bearbeitungsmöglichkeit, kurz: die digitale Akte. Was in der Praxis vom Sozialhilfeportal in den Bezirken angekommen ist, bietet die Möglichkeit, Anträge online zu stellen. Das ist schön für die Bürgerinnen und Bürger. Nur brauchen wir darüber hinaus auch einen Effizienzgewinn – und den haben wir nicht.
taz: Wieso nicht?
Rehfeldt: Weil für den kleinen Teil, der digital beantragt werden kann, keine Schnittstelle ins Fachverfahren ermöglicht wurde. Also werden die Anträge, die digital eingehen, von uns ausgedruckt und händisch bearbeitet. Das ist totaler Unsinn und maximal frustrierend.
taz: Wie sähe eine Digitalisierung aus, die Ihnen hilft?
Rehfeldt: Vor allem muss sie eine digitale Sachbearbeitung von Anfang bis Ende ermöglichen.
taz: Dieser Schritt kann doch eigentlich nicht so schwierig sein.
Rehfeldt: Berlin hat die Eigenart, immer alles selber entwickeln zu wollen, damit es 100 Prozent zu dem passt, was man möchte. Anstatt bestehende digitale Lösungen zu übernehmen und vielleicht ein paar Abstriche zu machen. Dann kommen während der Entwicklung immer noch neue Anforderungen dazu, so war es auch beim Sozialhilfeportal. Wenn wir dagegen in die Jobcenter gucken, die sind komplett durchdigitalisiert, da funktioniert das gut. Die bedienen sich an dem, was die Bundesverwaltung bietet. Und da ist es eben bundesweit einheitlich, während in Berlin sogar zwischen den Bezirken ganz unterschiedliche IT-Strukturen bestehen.
Das zu vereinheitlichen, ist ein weiter Weg, den der Senat aber eingeschlagen hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 50.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!