„Überlandschreiberinnen“: Ruinen als Vergessmaschinen
Brandenburg steht voll mit ehemaligen Bunkern und Kasernen. Da waren die Preußen, die Nazis, die Rote Armee. Wie erinnert man daran?
Heute geht es in den Landkreis Teltow-Fläming: Weite Felder mit verblühten Sonnenblumen, Mais, ein riesiger Windpark. Die Getreideernte ist fast vorüber. Traktoren, umkreist von Rabenvögeln, ziehen schweres Gerät Richtung Horizont. Es riecht nach Erde. Der Abstand zwischen den Ortschaften wird größer. Mit der Entfernung von der Metropole wachsen Leerstand und Verfall. Heruntergelassene Rollläden begleiten die Fahrt, als verschlössen die Dörfer ihre Augen. Es gibt auch nichts zu sehen.
In den vergangenen Jahren geriet die Gegend wegen verheerender Waldbrände in die Schlagzeilen. Kiefermonokulturen brannten wie Streichhölzer. Munitionsreste im Boden erschwerten die Löscharbeiten. Die liegen hier überall. Die lange Tradition der heute verlassenen Truppenübungsplätze reicht vom Kaiserreich über die faschistische Wehrmacht bis hin zur Roten Armee. Schlachtfelder unter Sand, Gras und Kieferbewuchs – Explosionsgefahr. Aus der Asche bricht Mischwald hervor. Als wäre keine Zeit vergangen.
Die zivile Umnutzung der riesigen Areale ehemaliger Militärliegenschaften ist eine Mammutaufgabe für das Land Brandenburg. In Teltow-Fläming ist fast die Hälfte der nicht landwirtschaftlich genutzten Bodenflächen betroffen. Seit bald 35 Jahren versucht man sich an immer neuen Konversionsideen. Kurz nach der Jahrtausendwende etwa wurde hier die längste zusammenhängende Rollstrecke Europas geschaffen – ein Skaterparadies. Die weit verstreuten Kasernenruinen und Bunkeranlagen locken Militärfreaks und Fotografen, waren und sind Kulisse illegaler Partys und Autorennen. Aber für all das gibt es inzwischen auch legale Varianten: Kartbahn, Technoklub im Bunker oder teure Führungen zu den „Lost Places“.
Dieser Text ist Teil unserer Berichterstattung zu den Wahlen 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen. Die taz zeigt, was hier in diesem Jahr auf dem Spiel steht.
Sauer macht lustig
Verlorene Orte. Verrammelte Dorfkrüge, trübe Löschwasserteiche, kein Laden weit und breit. Auffällig die Schönheit der roten Ziegel, die mal hinter herabfallendem Rauputz hervorleuchten, mal ganze Ensembles aus teils intakten, teils brüchigen Gebäuden bilden. An Ortseingängen hängen Gummistiefel als Zeichen des Protests, warnen bemalte Laken: „Stirbt der Bauer, stirbt das Land.“ Es sind auch frisch renovierte Häuser zu sehen, vor denen parken große Autos mit Kennzeichen aus Braunschweig, Frankfurt am Main und Berlin. Die wilden Alleeäpfel wecken schöne Erinnerungen. Wir pflücken. Sauer macht lustig.
Vor Luckenwalde weht es die ersten Herbstblätter von den Alleebäumen. Der so typische Anblick einer leeren Innenstadt wandelt sich in einer Nebenstraße. Das Schützenfest hat viele Leute angezogen, die haben sich feingemacht. Seidenkleider neben grünen Uniformen. Bier und Bratwurst für Ergraute, eine Hüpfburg für die Enkel. Die Generation dazwischen ist kaum vertreten.
„Angetreten!“ Menschen erheben sich von den Bierbänken. Streben zur Bühne. Schweiß fließt „Marscherleichterung ist befohlen!“ Die Uniformjacken dürfen liegen bleiben. „Schützen, rührt euch!“ Meine Sitznachbarin wirkt angefasst. „Ich hab richtig Gänsehaut.“ Sie schnieft und schaut zur Siegerehrung. „Der Adler ist gefallen!“ Der Gewinner des Bürgerschießens trägt unter großem Applaus seine Zielscheibe davon, ein zerschossenes Pappbild. Raubvogel kaputt. Es folgen Ehrungen: Apfelprinz, Prinzessinnen, Kronprinz und viele Medaillen. Ein 95-Jähriger wird bejubelt: „Er schießt noch Wettkämpfe.“ Die Prozedur neigt sich dem Ende zu. Am Nachbartisch kommt Unruhe auf. Sie gilt einem Tisch am Rande.
„Dit sind keene Deutschen.“ „Sitzen aba janz still.“ „Sind nur noch Ausländer aufm Boulevard.“ „Du traust dich doch als Weib nicht mehr raus.“ „Bin jespannt, wer bei mir gegenüber einzieht.“ „Na, Schwatte. Zieht eener in, komm’ 20.“
„Legt an!“ Die Stimme des Zeremonienmeisters erlöst. Salutschüsse lassen die Luft vibrieren. „Kanone kommt!“ Zeit zu gehen.
850 Jahre Jüterbog
Das benachbarte Jüterbog ist die zweitälteste Stadt Brandenburgs, davon künden Stadtmauerreste, Kirchen und Klosterbauten. In der Halle der gotischen Nikolaikirche predigte einst Thomas Müntzer gegen die Pfaffen, bevor er die Bauern in die Schlacht führen sollte. Den Aufstand. Das Blutbad. Ihre Niederlage.
„850 Jahre Jüterbog“! Die Stadt hat Geburtstag. Bürgermeister Arne Raue wird als parteiloser Kandidat zur Landtagswahl antreten. Die evangelische Kirche stellte sich vor Kurzem in einem offenen Brief gegen ihn – wegen Raues AfD-Nähe. Sein Tun und Lassen spaltet die 12.000-Einwohner-Stadt.
Am alten „Russenbahnhof“ war kürzlich ein ICE-Halt geplant. Zur Probe. Was für ein Hoffnungsstrahl! Doch daraus wurde nichts. Das Gebäude vor den Gleisen mit dem dazugehörigen Bunker gehört dem „Frontvogt“, einem Düsseldorfer Militariafetischisten und Online-Händler. Vor Jahren hatte er sich mal in die Luft gesprengt. Hausdurchsuchungen folgten. Verstoß gegen Waffengesetze, in einer Gegend voller Munition im Boden.
Über breite Heerstraßen aus preußischem Kopfsteinpflaster fahren wir zum Alten Lager, das 1870 gegründet worden war, um französische Kriegsgefangene unterzubringen. Die Wehrmacht schulte hier später Piloten in Theorie und Praxis. Bis zum Jahr 1992 Sowjetgarnison und Militärflugplatz, ist der Ortsteil der Gemeinde Niedergörsdorf heute halb Museum, halb Panoptikum der Zeiten. Rote Sterne, Kampfflugzeuge, rostiger Stacheldraht. An der nächsten Tankstelle wanken langhaarige Partygänger barfuß an gut trainierten Glatzköpfen vorbei. Zwischen Karl-Liebknecht- und Lenin-Straße gibt es „Mischka-Eis“, daneben schaut Sahra Wagenknecht mit ihrer Luxemburg-Maske von einem Wahlplakat. Unweit brüllt es von einem Transparent: „Wie lange müssen wir uns eigentlich noch von den Amis und dieser Bundesregierung verarschen lassen? Sofortige Friedensverhandlungen!“ Die Ukraine gibt es für sie nicht.
Der anarchistische Pazifist Ernst Friedrich nannte uns Menschen Vergessmaschinen. Auch in der schönen Bücherstadt Wünsdorf vor den Toren Berlins – einst Sitz des Oberkommandos der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland – erinnert man sich eher selektiv. Ein Vortrag stellt die Frage: „30 Jahre Truppenabzug – ein strategischer Fehler?“
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