Über den Osten sprechen: Wege aus der Desaster-Rhetorik
Was hilft denn nun gegen rechts? „Sachlichkeit“, heißt es häufig. Aber reden wir eigentlich sachlich über den Osten des Landes?
I n Sachsen und Brandenburg wurde letzten Sonntag gewählt. Obwohl sehr viele Menschen – vielleicht zum ersten Mal in dieser Breite und Buntheit – für die Demokratie in Ostdeutschland gekämpft haben, haben die extremen Rechten ihre Stärke gezeigt. Eine bunte, junge, engagierte Zivilgesellschaft hat sich gewehrt, aber fürs Erste nicht gewonnen. Dafür kommen neue Stimmen und ein neuer Ton in die Debatten im und über den Osten.
Seit Jahrzehnten spielt sich der Diskurs in den immer gleichen Defizitschleifen ab: Die Wirtschaft, ja, die Menschen der DDR waren so marode, dass mit ihnen der Aufbau einer sozialen Marktwirtschaft und demokratischer Strukturen nicht als Nachbau der westdeutschen Verhältnisse gelingen konnte. Als offenbar wurde, dass diese Kopie misslingen würde, hauten die Ostler massenweise in den Westen ab, und die Frauen unter ihnen stellten das Kinderkriegen ein. Daher leben, so eine Meldung von vor dem Sommer, heute im Osten so wenige Menschen wie 1905. Die bleiben mussten, drängten der Mehrheit im neuen Deutschland ihre Thematik der abgehängten Regionen auf: Sie neigen autoritär-populistischen Gestalten zu und sind voll Rachegelüsten gegenüber der Mehrheit. Das ist in etwa die rhetorische Schleife seit 20, 25 Jahren.
Was hilft denn nun gegen rechts? „Sachlichkeit“, heißt es häufig. Aber wird eigentlich sachlich über Ostdeutschland gesprochen? Ich war zwei Tage vor den Wahlen in Demmin. Zwei mecklenburg-vorpommersche Staatssekretäre hatten zur Sommertour geladen. Die Leute vom T30 – einem Kultur-, Kunst- und Demokratieladen schräg gegenüber dem AfD-Büro – sollten besucht werden. Sie hatten zur Vorbereitung andere Vereine und Menschen mit Ideen für ihre Stadt gebeten, Zukunftsprojekte zu erarbeiten, die in großer Runde mit der Politik diskutiert werden könnten. Heraus kamen 15 Vorschläge, wie das Leben in Demmin angenehmer gemacht werden könnte. Doch die Diskussion drohte im Würgegriff der Demografie zu ersticken: Tags zuvor waren die neuesten Prognosen bekannt geworden, wonach Demmin in 20 oder 30 Jahren noch einmal stark schrumpfen würde.
So geht die „sachliche Debatte“ seit Jahren: Engagement läuft ins Leere, weil wir in Zukunft weniger werden. Aber wer sagt eigentlich, dass Gesellschaften sich so entwickeln müssen, dass überall gleich viele Menschen leben? Können nicht auch kleinere Dörfer und Städte in dünn besiedelten Regionen ein gutes Leben führen? Ist nicht die Art und Weise, wie die Leute zusammenleben, wie sie Gesellschaft an jedem Ort selber machen, wesentlicher als die Anzahl der Bewohner?
Falsche neoliberale Politik
Hinter der demografischen Desaster-Rhetorik verbirgt sich etwas viel Entscheidenderes: Irgendwie sind die Menschen, die da weggehen oder nicht hingehen, die älter werden und erst recht die Frauen, die keine oder nicht genügend Kinder kriegen, schuld, dass es dem Ort und der Region schlechtgeht. Für die verantwortliche Politik ist das bequem, enthebt es sie doch scheinbar der Aufgabe, dafür politische Entscheidungen zu treffen und am Ende womöglich für eine Region, in der sich die Leute so sehr selbst schädigen, mehr statt weniger Geld auszugeben.
Soziologe, Vorstand des Thünen-Instituts für Regionalentwicklung und Mitautor von „Neuland gewinnen – die Zukunft in Ostdeutschland gestalten“ (2017).
Ein Blick in die Berichte zum Stand der deutschen Vereinigung der Bundesregierung belegt das. Im ersten rot-grünen Bericht von 1999 steht, dass die Politik der schnellen Treuhand-Privatisierung mit ihren Fehleinschätzungen den Zusammenbruch der Industrie zur Folge hatte. 2007 liest sich das ganz anders. Da wird der demografische Wandel dafür verantwortlich gemacht, dass der Osten weiter zurückbleibt. An die Stelle falscher neoliberaler Politik tritt eine ganz und gar unpolitische Sicht auf die Gesellschaft: Wo Menschen weniger und älter werden, ist staatliche Politik außen vor. Der Staat kann nur noch die Schrumpfung moderieren und hier und da ein Mehrgenerationenhaus einweihen. Diese Lesart dominiert seitdem als „sachliche Expertensicht“.
Auch die Autoritätshörigkeitsscheife beherrscht seit vielen Jahren die Talkshows, Kommentare und Berichte zu Ostdeutschland. Erst der Typ mit der nassen Hose, später die NPD-Kader, die von der Straße in die Parlamente drängten. Die Alternative für Deutschland ist da allerdings von einer anderen Qualität. Sie bietet eine Projektionsfläche für alles Misslungene und Ungerechte.
Eine Art Lumpenproletariat
Lange konnten die in den Parlamenten vertretenen Parteien gut damit leben, dass ein Teil ihrer Wählerschaft keineswegs ihren Werten anhing, solange er ihnen die Mehrheit brachte. Unter denen, die freundlich als Protestwähler gezählt werden, befindet sich schon seit 1990 eine Art Lumpenproletariat, Gabriel hat es mal Mob genannt, das so lange willkommen war, wie es auf die Verheißungen der blühenden Landschaften hereinfiel und die bittere Medizin, dass aus der DDR ohnehin nichts zu retten gewesen wäre, brav geschluckt hat. Das sind die gleichen Leute, die aus dem emanzipativen Ruf „Wir sind das Volk!“ die Konsumformel „Wir sind ein Volk!“ gemacht und damit eine gesellschaftliche Revolution gekapert haben.
Jetzt wenden sich viele, ironischerweise wieder mit der Emanzipationsformel „Wir sind das Volk!“ von den Parteien ab, deren Werte sie zwar nicht vertreten, die ihnen aber Unterschlupf geboten haben. Mehr noch, sie wenden sich vom parlamentarischen System ab und bekämpfen es. Nun ist die Not groß – so groß, dass selbst die ehemalige Protest- und Staatspartei koalitionsfähig wird, auf jeden Fall dazugehört zur Demokratie.
Die neue Aufgabe ist jetzt, die AfD-Mehrheit zu verhindern. Nein, wir reden nicht über die durch Verwaltungs- und andere Reformen ausgedünnten demokratischen Strukturen. Wir reden nicht darüber, auf welch absurde Weise aus Staatseigentum für eine kurze Zeit Volkseigentum und schließlich für immer Privateigentum wurde. Zwar regt es viele Menschen mächtig auf, sich BMW als Genossenschaft vorzustellen, wenn aber unzählige Genossenschaften aus der DDR zu privat betriebenen Agrarfabriken werden, wird das verteidigt als die für unseren Wohlstand unabdingbare freie Marktwirtschaft.
Gleichheit, Gleichberechtigung, Gleichwertigkeit
Wenn die Mehrheit, die sich von den verbohrten Racheengeln nicht Themen diktieren lassen darf, so weiter macht, bleibt auch den anderen DDR-Bürgern, in Thüringen etwa, auf kurze Distanz gar nichts anderes übrig, als die AfD zu wählen, wenn er oder sie es denen da drüben oder der Mehrheit mal so richtig zeigen will. Das erinnert an die Nazis in der DDR: Mit wenigem konnte man so stark provozieren wie mit der Ablehnung des staatlichen Antifaschismus.
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Gleichheit und Gleichberechtigung stellt man nicht her, wenn man mit den Fingern auf die anderen zeigt. Die Gleichwertigkeit, die eine Regierungskommission gerade hastig untersucht, kann nur durch eine Verabredung unter Gleichen zustande kommen. Daher wäre auch die Mehrheit gut beraten, sich auf einen Verfassungsprozess einzulassen, an dessen diskursivem Ende ein Akt der Vereinigung und nicht des Beitritts steht.
Hier liegt eine Wurzel der paradoxen Situation für die Leute im Osten. In dem Augenblick, in dem sie die Freiheit und das Konsumwunder erreicht hatten, wurden ihre Betriebe verramscht, wurden sie massenweise arbeitslos und durften sie das, was die neuen Eigentümer nicht gebrauchen konnten, wegräumen. Freiheit ohne Zukunftsperspektiven ist auch keine wirkliche Freiheit.
Es ist daher höchste Zeit, über die Art und Weise, wie mit dem Volkseigentum von 16 Millionen DDR-Bürgern umgegangen wurde, zu reden. Die neuen Interessenten, die überall herkommen durften, nur nicht aus dem Osten, mussten noch nicht mal tricksen oder kriminell sein – sie fanden eine komfortable Situation vor, die sie geradezu dazu zwang, den Preis für die DDR-Wirtschaft zu drücken: Die konnte ja nichts wert sein, sonst wäre das politische Regime nicht so leicht beiseitezuschieben gewesen. Die Parole hieß vielmehr: Nehmt uns den Plunder bloß ab, wir bezahlen für alles. Nur erspart der neuen gesamtdeutschen Politik das Gejammer, die Berlin- und Bonn-Reisen ganzer Belegschaften, das erpresserische Hungergestreike.
Die Erfahrung, beschissen worden zu sein
Es müssen die unzähligen Verpflichtungen überprüft werden, die Westunternehmer leichthin unterschrieben haben, um an dieses Eigentum zu kommen. Es muss nachgezählt und nachgerechnet werden, was dieses damals erworbene Eigentum eingebracht hat und heute einbringt. Und es muss dafür Sorge getragen werden, dass der Finanzstrom, der längst in gleicher Größe von Ost nach West fließt, gestoppt wird. Im Zweifel muss das Eigentum wieder Volkseigentum werden. Das aufzuklären ist deshalb wichtig, weil jeder im Osten, der damals betroffen war, eine Geschichte der Ungerechtigkeit erzählen kann. Vieles ist mythisch mittlerweile, vieles wurde hinzugedichtet – und doch bleibt die Erfahrung, irgendwie beschissen worden zu sein.
Diese Debatte und eine Verständigung darüber, wie wir mit Volkseigentum umgehen wollen, ist auch wichtig, um zukünftige Veränderungsprozesse angehen zu können. Das betrifft den Umbruch in der Lausitz beim Kohleausstieg, wo die extremen Rechten besonders viele Stimmen holen, beim Umbau zu mehr Windkraft, wo die Freien Wähler in Brandenburg punkten können oder das Landgrabbing durch Investoren, das auf Jahre hinaus die Entwicklung ländlicher Räume dominieren wird.
Aber der zentrale politisch zu gestaltende Punkt ist, dass endlich die Defizit-Demografie-Desaster-Schleife beerdigt wird. Zugunsten einer neuen Aufmerksamkeit für jene, die sich Tag für Tag dort, wo sie leben und arbeiten, dafür einsetzen, dass Gesellschaften wieder zum Laufen kommen, dass Orte der Begegnung geschaffen werden, Alltagspolitik wieder möglich wird. Die neuen Ostdeutschen, die diese Vereinigung täglich machen, kommen übrigens aus der DDR und eben auch aus dem Westen.
Die Landtagswahlen sollten uns gelehrt haben, dass die Engagementgesellschaft viel stärker und präsenter ist als bisher angenommen. Wir brauchen einen neuen Solidaritätspakt für jene, die diese Gesellschaft auf ihren oft noch schwachen Schultern tragen.
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