piwik no script img

Debütroman über deutschen MassensuizidHeimsuchung auf dem Netto-Parkplatz

In „Die Gespenster von Demmin“ verwendet Verena Keßler einen Massensuizid am Ende des Zweiten Weltkriegs als Folie für eine Coming-of-Age-Geschichte.

Die Hansestadt Demmin im Landkreis Mecklenburgische Seenplatte: die Geschichte nicht wegerinnern Foto: Norbert Fellechner/imago

Larry bereitet sich auf den Krieg vor. Nicht auf den gegen die Eltern oder die eigene Unsicherheit, obwohl wir uns in einem Bildungsroman befinden, sondern auf den echten. Denn wer Kriegsreporterin werden will, glaubt die Neuntklässlerin aus Demmin, muss sich schon mal auf das Ärgste einstellen: Mit ihrem love interest Timo testet sie, wie sich Waterboarding anfühlt, und hängt sich kopfüber in Bäume – damit sie lernt, bei Sinnen zu bleiben, wenn sie gefoltert wird.

Ihre Nachbarin, die Seniorin Frau Dohlberg, denkt an was anderes, wenn sie Larry am Ast baumeln sieht: an die alte Kastner nämlich, „obwohl die ja gar nicht in dem Baum gehangen hat, sondern im Vorgarten“. Ein ganzes Leben sei das jetzt her.

In der mecklenburgischen Kleinstadt Demmin fand vom 30. April bis 4. Mai 1945, zum Ende des Zweiten Weltkriegs, ein beispielloser Massenselbstmord statt. Weil die Wehrmacht nach ihrem Rückzug die Brücken hinter sich gesprengt hatte, waren die Demminer eingeschlossen, als die Rote Armee anrückte. 500 bis 1.000 Menschen erschossen sich und ihre Kinder, erhängten sich oder gingen in die ­Peene – manche aus Panik vor den russischen Soldaten, manche aus Verzweiflung über den Verlust des Krieges.

„Die Gespenster von Demmin“ sind überall im gleichnamigen Debütroman von Verena Keßler: Sie spuken durch Keller und Familien, erschrecken Zeitzeugen und legen sich wie Grauschleier über die Gegenwart. Die 32-jährige Hamburgerin Keßler, die heute in Leipzig lebt, habe von der Demminer Verwandtschaft ihres Freundes von der Geschichte erfahren, erzählte sie im Interview mit den Lübecker Nachrichten.

Der Roman

Verena Keßler: „Die Gespenster von Demmin“. Hanser Berlin, Berlin 2020, 240 Seiten, 22 Euro

Kurz stutzt man – weil es unangemessen scheint, den Massensuizid als Folie für die Coming-of-Age-Geschichte einer morbiden Jugendlichen zu nutzen, die sich in besonders dramatischen Momenten schon mal in ausgehobene Gräber legt, ansonsten aber sehr alters- und genretypische Probleme hat: Streit mit der besten Freundin, keine Lust auf den neuen Freund ihrer Mutter.

Überzeugend antrainierte Toughness

Aber die Engführung der Zeitebenen funktioniert, weil Keßler sie behutsam entwickelt. Bis dahin hat man viel Zeit, sich mit Demmin und Larry anzufreunden, die manchmal an Nini erinnert, die Heldin aus Stefanie de Velascos Jugendroman „Tigermilch“: Wie die Berlinerin umweht auch Larry trotz ihrer überzeugend antrainierten Toughness eine tiefe Melancholie.

„Sonntag früh auf dem Netto-Parkplatz kann man sich ziemlich gut vorstellen, der letzte Mensch auf der Welt zu sein“, sagt sie. Oder: „Sonntage in Demmin sind wie ein Bad in lauwarmem Wasser.“ Obwohl Larry lieber in den Krieg ziehen als ewig in Demmin leben will, schildert Keßler die Kleinstadt nicht als Vorhölle. Stattdessen findet sie für ihre seltsam tröstliche Tristesse Bilder, die allen, die sich mit Netto-Parkplätzen in der Provinz auskennen, bekannt vorkommen dürften.

Die größte Leistung aber ist ihr lässiger, dabei nicht leichtfertiger Umgang mit einer alten, gewichtigen Frage: Wie viel Mitgefühl verdient das Tätervolk? Wie spricht man über die Kriegstraumata der Zivilbevölkerung, ohne sich mit denen gemein zu machen, die jährlich am 8. Mai zum „Gedenkmarsch“ durch Demmin ziehen?

Empathie für die Kinderperspektive

Keßler schildert Frau Dohlbergs Heimsuchungen voller Empathie für die Kinderperspektive auf Kriegsverbrechen, während Larry und Timo die Stimme der Radikalität sind: „Ich finde, man sollte sich einfach Mühe geben, zu überleben“, sagt Timo in einem Gespräch über Selbstmorde. Irgendwann sterbe man eh, und bis dahin könne man schon durchhalten. „Es sei denn, man ist ein Nazi“, entgegnet Larissa darauf. „Stimmt“, sagt Timo. „Nazis können von mir aus jederzeit sterben.“

Christoph Schlingensief hat mal gesagt, erinnern heiße vergessen: Ist ein Bild oder Ereignis erst einsortiert ins große Gedenk-Almanach, kann es niemanden mehr irritieren. Die Aufarbeitung des Massensuizids in Büchern und Filmen, zum Beispiel Martin Farkas „Über Leben in Demmin“ von 2018, hat gerade erst begonnen.

Verena Keßlers Roman ist ein Plädoyer dafür, die Geschichte nicht allzu einfach wegzuerinnern.

Links lesen, Rechts bekämpfen

Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

1 Kommentar

 / 
  • Wenn Kinder kein Mitgefühl verdienen, weil sie einem "Tätervolk" angehören, wie unterscheidet man sich denn dann noch von Menschen, die allen Angehörigen dieser oder jener eingebildeten "Rasse" ihr Mitgefühl entziehen?



    Dass vergangenes Leid deutscher Staatsangehöriger instrumentalisiert wird, und zwar von Sympathisanten von Mördern, ist bekannt. Ob man es daher literarisch thematisieren sollte, ist fraglich. Aber wenn es einmal erwähnt worden ist, dann ist es kein guter Reflex, mit einem Unwort wie "Tätervolk" daherzukommen, dessen Angehörige alle kein Mitgefühl verdienen würden.