Über den Normalitätsdiskurs: Kreuzberg ist überall
Jeder ist auf seine Weise „normal“, das heutige Deutschland ist plural. Friedrich Merz hat sich mit seiner Kreuzberg-Metapher selbst entlarvt.
Nur selten bekennt sich jemand dazu, „normal“ zu sein. In „Normalität“ zu leben. Oder in dem, was der, in der Perspektive seiner Parteifreunde, unglücklich agierende CDU-Chef Friedrich Merz, meint, wenn er sagt: Mehr Gillamoos, weniger Kreuzberg.
Ersteres, ein Wort für einen bayerischen Volxpartyrummel in Abensberg, sei mehr Deutschland als jener Berliner Bezirk, der nur durch Hausbesetzungen und anderen Krawall durch jene gerettet werden konnte, die nie die Union wählen würden: Linke, Alternative, Grüne, herkunftsethnisch schwerst gemischt.
In Wahrheit verfehlte Merz nur die deutsche Realität schlechthin: Warum weiß er nicht, dass jene, die sich gern in Gillamoos krachledern mit alkoholischer Hilfe niederlassen, die Gleichen sind, die auch gern mal in die Hauptstadt reisen, dort noch gerner mal einen faszinierten Blick auf Kreuzberg (oder, aktueller, Neukölln) werfen?
Was Konservative ängstlich (fast: angstlustvoll) furchtsam konstruieren, einen Gegensatz zwischen einem Provinzort und einem recht bunten, jedenfalls nicht klinisch sauberen Teil der Hauptstadt, existiert eben nur als gedankliches Konstrukt.
Die meisten Kreuzberger*innen, um im Bild zu bleiben, fahren gern mal in die Gillamoose der Republik (oder der Welt). Und jene, die in Bayern eher nicht in Städten leben, reisen beispielsweise auch mal in den KitKat-Club zur Entdeckung ganz anderer als offiziell sagbarer Lüste. Oder essen gern Döner. Der aufgemachte Gegensatz ist schon, gemessen am wirklichen Leben in unserem Land, absurd.
Bloß kein Mainstream-Geschmack!
Alle sind, ebenfalls mit diesem toleranzgesättigen Blick betrachtet, auf ihre Weise normal. Sie gehören zu jeweils anderer Normalität. Nun ist es für Menschen, die gern Grüne wählen oder einst mit und durch die 68er-Bewegung zum Aufruhr kamen, schwer, sich als „normal“ oder als Teil einer Normalität zu verstehen.
Man hielt auf, so lauteten die Zauberworte des Erhaben-sein-Wollens: Nonkonformität, Abweichung oder Originalität. Wer etwas auf sich hielt, wollte als individuell gelten, bloß kein Mainstream-Geschmack. Letzterer war was für die, Achtung: Horrorwort, „Masse“. Die man nicht sein wollte, also nicht normal, nicht einer „Norm“ unterworfen.
Dass daraus eine neue Norm erwuchs, die des „Originalismus“, der Antidurchschnittlichkeit, gehört zu den nur ironisch zu verstehenden Befunden unserer Gesellschaft. Niemand traut sich mehr, ganz nach Sigmund Freuds lakonischer Sichtweise, zu sagen, ich bin ein Würstchen – eines wie alle anderen auch.
Ein Bekannter sagte mal auf meine Frage, was er in puncto Musik denn so höre, er sei da ganz individuell, er finde Phil Collins ziemlich super. Originalist*innen vermochten über diese Aussage nur mokant zu lächeln: Was für ein Trottel! Dabei hatte er recht, so wie die junge Frau, die die Mucke von Beyoncé (oder Taylor Swift … you name it) für ihren Ausweis von singulärem Geschmack hält.
Aber haben sie nicht recht? Hört nicht jeder auf Rechnung eigener Normalität – jene, die einem Normalgeschmack anhängen und auch jene, die zum Selbstbesserfühlen beteuern, es mit Freejazz zu halten?
In ihrer Andersheit respektiert
Die einen kaufen ihr Speiseöl beim Discounter, die anderen wollen eine geheime Quelle bei einem vollkommen und noch geheimeren Ölwinzer in einem beinah toten Winkel der Toskana entdeckt haben … Wir kennen alle das Spiel der Distinktion und sind entwaffnet, wenn jemand auf diesen ganzen Angeber*innenbullshit so gar nix gibt
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
In diesen Normalitätsdiskurs passt auch, dass Angehörige von sogenannten Minderheiten – alle Umfragen besagen dies – nichts als „normal“ sein wollen. Wie die anderen auch, aber in Ruhe gelassen, mit ihrer Lebensweise. In ihrer Andersheit zwar respektiert, aber nicht skandalisiert oder exotisiert werden wollen – etwa Juden und Jüdinnen, Schwule, Lesben und Transmenschen oder Frauen (in Männerberufen wie dem Maurerei) oder Männer (in Frauenberufen, etwa als Entbindungspfleger).
Als politisches Kulturkampfprogramm, siehe Merz, taugt dessen angebliche „Normalität“ immer weniger: So wie er es zeichnet, ist das moderne Deutschland längst nicht (mehr). Kurzum: Wir sind alle normal – und „originell“ ist für sich genommen in offenen Gesellschaften alles und zugleich nichts Besonderes.
Leser*innenkommentare
lesnmachtdumm
Norm
Dass von normal keine Ahnung hat, wer sich im Sylt-Flieger hat erwischen lassen- eh klar, oder ? www.merkur.de/bild...n-3zfh1Fhc0zb9.jpg Neulich im Rhein-Neckar-Raum mit der Straßenbahn unterwegs: Da wollen se erst Klimereklame machen, auf den Monitoren in der Bahn (Bahn, Bus, Ruftaxi fahren und Klima schützen...), DANN kommt (in derselben Straßenbahn!) Reklame für Direktflüge nach Sylt und sonstigen deutschen Inseln. Normal oder ?
DiMa
Die Menschen fahren auch gerne mal in den Zoo, nur leben wollen sie dort noch lange nicht. Die Menschen schauen auch gerne liebend gerne Horrorfilme, nur erleben wollen sie den Horror deshalb noch lange nicht.
Was Herr Merz mit seiner bildhaften Ansage meinte war die Disfunktionalität des Staates, den man in Kreuzberg sehr anschaulich erleben kann. Dies hat auch unmittelbar gewirkt, den der Kanzler hat unverzüglich den Deutschlandpakt ausgerufen.
Wenn man also arm und dreckig als Tourist erleben will, dann mag das schön und gut sein. Ich persönlich bin aus Kreuzberg wegen dieser Dysfunktionalität weggezogen. Die damalige Bildungsstadträtin Monika Herrmann hatte sich geweigert, eine Privatschule in der Gerhart-Hauptman-Schule einzuruichten. Und der Rest ist typisch kreuzberger Geschichte.
Jim Hawkins
In einer vielfach gespaltenen Gesellschaft gibt es eben viele Normalitäten. Die Durchlässigkeit ist allerdings wohl eher temporärer Natur. Und findet, wie beschrieben, eben nur im Urlaub statt.
Wanderer zwischen den Welten sind selten.
Ich habe ab und an Besuch aus München. Ich überlege mir im Vorfeld schon, was das schlimmste, aber auch interessanteste sein könnte, das ich ihnen zeigen kann.
Das Revolutionskaufhaus in der Manteuffelstraße, offene Drogenszenen, vielleicht eine Demo, die brenzlig werden könnte. Im Gegenzug werde ich in München in die Forschungsbrauerei geschleppt und muss übertriebene Bergwanderungen aushalten.
That's life.
Lowandorder
@Jim Hawkins 🏴☠️ - „übertriebene Bergwanderungen“ auf dem flachsten Teller cis/trans alpina?
Alter. Mach Bosse!;)))
Jim Hawkins
@Lowandorder Die sind einfach so sportlich, immer optimistisch und trinken nicht viel.
Wenn schon wandern, dann in Brandenburg, auf Fontanes Pfaden oder zu Görings Carinhall.
In einer Landschaft, in der ein Buckel mit 50 Metern als Berg gilt.