Türkisch-deutsche Kulturgeschichte: Die Vermessung des Döners
Der Döner hat mehr für die Begegnung von Kulturen und Klassen geleistet als so manche Initiative. Unser Autor hat ein neues Buch über ihn geschrieben.
Mein Lieblingsessen in Deutschland ist der Döner Kebap!“ Das gestand der Multimilliardär Elon Musk der Weltöffentlichkeit, als er gefragt wurde, was er an der deutschen Küche am meisten schätzt.
Nur wenige Monate vor diesem Bekenntnis unterzeichnete der Tesla-Chef am 12. November 2019 im Berliner Hotel Adlon die Absichtserklärung, seine Europafabrik vor den Toren Berlins zu bauen. Auf seinen Döner musste Musk bei den Verhandlungen in Berlins edelstem Hotel nicht verzichten. Seit August 2018 führt das Adlon den „türkischen Klassiker“, wie es auf der Speisekarte heißt. Nicht als Tellergericht, sondern im Fladenbrot, ganz so wie ihn das Volk auf den Straßen Berlins verzehrt.
Neu und kreativ ist der Döner Kebap allenfalls für die gehobenen Stände. Für die Ärmeren ist der Döner aufgrund seines sagenhaften Preis-Leistungs-Verhältnisses seit bald 50 Jahren eine feste Säule ihres mühsamen Überlebenskampfs. Oder wie es der Journalist Ömer Erzeren einmal drastisch formulierte: „Der Markt verlangte nach einer Ware für die Abfütterung der Deklassierten, Ausgegrenzten, der Sozialhilfeempfänger.“
Es ist eine spannende, mitunter auch gefährliche Reise, die der Döner Kebap in 50 Jahren von seinen Ursprüngen in Berlin-Kreuzberg bis zu seinem Einzug in das Hotel Adlon zurückgelegt hat. Man kann sich über die Suche der Wohlhabenden nach dem immer neuen, authentischen Kick lustig machen. Man kann sich aber auch darüber freuen, dass diese deutsch-türkische Innovation, die von einfachen, ungelernten Arbeitern in jahrzehntelanger schweißtreibender Arbeit entwickelt wurde, nun auch Eingang in die Hochkultur gefunden hat. Der Döner ist Punk und Rock ’n’ Roll.
Die Dönerrecherchen beginnen in den 80er Jahren
„Der Junge muss nun völlig abgedriftet sein! Gibt es denn keine wichtigeren Themen? Damit verpasst der uns Türken doch wieder nur dieses glitschig-fette Döner- und exotische Bauchtanz-Image.“
war Meinungsredakteur und Leiter des Inlandsressorts der taz. Seit 2002 ist er Geschäftsführer der Initiative „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Er ist Autor von Büchern über Migration, Islamismus, Rechtsextremismus und jugendliche Subkulturen.
Zu Beginn meiner Dönerrecherchen in den Achtziger- und Neunzigerjahren erntete ich verständnislose Blicke. „Du wirst dir mit einer Reportage über den Döner Kebap schnell die Kritik der türkischen Intellektuellen einhandeln“, warnte eine türkische Gesprächspartnerin.
Denn mit dem Dönerkonsum verhält es sich wie mit Bordellbesuchen: Hunderttausende tun es täglich, aber denen, die die Dienstleistung erbringen, wird die gesellschaftliche Anerkennung verwehrt.
„Türkische Kultur ist mehr als Döner“, „Nicht nur Kebap und gekürzte Hosenbeine“, „Türkische Geschäftsleute haben mehr zu bieten als Döner Kebap“. So lauteten über viele Jahre die Schlagzeilen, wenn Deutsche aufgerüttelt und bei ihrer vermeintlichen kulturellen Ignoranz gepackt werden sollten, ein türkischer Kulturverein auf sein ambitioniertes Programm aufmerksam machen wollte oder eine Ausländerinitiative demonstrativ um Gehör für ihr politisches Anliegen bat.
Das gebrochene Verhältnis der türkischen Akademiker zum türkischen Exportschlager Nummer eins lässt sich leicht erklären. Der Döner hat stärker als kulturelle Offensiven, Freundschaftsfeste und moralische sowie politische Appelle die interkulturelle Begegnung befördert. Das schmerzt, macht die eigene bescheidene Bedeutung deutlich, stellt die Kleiderordnung infrage. Nicht in den Volkshochschulkursen und an den Stätten der Hochkultur, sondern an der Imbissbude kamen Hans und Mustafa ins Gespräch, reiften die Pläne für die erste Türkeireise, wurden die ersten türkischen Worte gelernt.
Das gilt für den Osten des Landes noch mehr als für den Westen. Wenn irgendjemand die Bürger der DDR nach 1990 lehrte, dass die Wiedervereinigung nicht nur die Deutschen in Ost und West betrifft, sondern auch die zwei, drei Millionen Einwanderer aus der Türkei, dann waren es eben jene einfachen Kebapcı, die Dönerverkäufer. Sie waren die Kundschafter. Sie wagten sich, kaum war die Mauer gefallen, in den Wilden Osten vor. Sie, und nicht die staatlich subventionierten und verbeamteten Integrationsspezialisten, bauten in der Gluthitze des Dönergrills Brücken der Verständigung. Tagtäglich stellten sie sich den neugierigen und immer gleichen Fragen ihrer Kundschaft: „Mehmed, wie ist das eigentlich bei euch da unten?“ – „Heinz, glaubst du wirklich, dass wir da noch im Eselskarren durch die Gegend gurken? Fahr mal nach Antalya. So einen Urlaub, wie du ihn dort verbringen kannst, hast du noch nicht erlebt.“
Die Kebapverkäufer sind die wahren, da allgegenwärtigen Botschafter der türkischen Kultur. Für die deutsch-türkische Beziehung haben sie mehr geleistet als zum Beispiel wir, die Journalisten. 1996, als ich mit „Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam“ eine erste Kulturgeschichte des Döner Kebaps vorlegte, habe ich die Entwicklung positiv gesehen. Es waren die Jahre fünf und vier nach den Terroranschlägen in Mölln und Solingen. Den Brandanschlägen fielen 1991 und 1992 türkische Familien zum Opfer. Acht Menschen, darunter Kinder, starben, dreißig wurden zum Teil schwer verletzt. Es war der vorläufige Höhepunkt einer langen Serie antitürkischer Gewalttaten.
Das Buch sollte einen Beitrag dazu leisten, die völkische Offensive im Zuge der Wiedervereinigung mit einer neuen Erzählung zu überwinden und ein neues Kapitel im Verhältnis zwischen Deutschen und Türken aufzuschlagen. Die Deutschen adoptierten den Döner Kebap, und er wurde ihr beliebtestes Fast Food – vor der Pizza, vor der Currywurst und vor dem Hamburger.
Diese Liebe kann doch nicht folgenlos sein, lautete die Botschaft. Oder um es in den Worten der Historikerin Maren Möhring einmal etwas akademischer auszudrücken: „Die besondere Bedeutung des Essens für die Identitätskonstruktion liegt darin begründet, dass die Nahrung in den eigenen Körper aufgenommen wird und damit im materiellen Sinne ein Teil des eigenen Selbst wird.“ Der Optimismus schien berechtigt. Mit dem Antritt der rot-grünen Bundesregierung im Herbst 1998 bekannte sich Deutschland endlich zu dem, was nicht mehr zu leugnen war: Wir sind ein Einwanderungsland! Mit der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts im Jahr 2000 wurden die Verhältnisse vom Kopf auf die Füße gestellt. Deutschsein war von nun an nicht mehr allein an Abstammung und das Blut gebunden. Deutsche und Deutscher konnte nun werden, wer in diesem Land geboren wurde beziehungsweise dieses Land zum Lebensmittelpunkt für sich gemacht hatte.
Es gab vor 25 Jahren viele Gründe, hoffnungsfroh in die Zukunft zu blicken. Das in der Dönerindustrie akkumulierte Kapital ermöglichte soziale Aufstiege. Mehr und mehr Kinder der „Gastarbeiter“ studierten. Manche wurden erfolgreiche Anwälte, andere Journalisten und wieder andere entwickelten als Betriebswirte oder Veterinäre die Dönerproduktionen und Fast-Food-Imbisse ihrer Eltern weiter. Andere folgten den Fußstapfen ihrer Eltern und arbeiteten im Niedriglohnsektor.
35 Jahre nach ihrem Beginn im Oktober 1961 entwickelte sich die Einwanderung aus der Türkei zu einem Erfolgsmodell. Etwas Neues entstand mit dem Döner Kebap. Er war nicht mehr türkisch und er war nicht deutsch, er war etwas Hybrides.
Zeitgleich mit dem Buch „Aufgespießt. Wie der Döner über die Deutschen kam“ betrat Feridun Zaimoglu mit „Kanak Sprak“ die Bühne und mischte von da an die deutschsprachige Literaturszene mit mutigen Romanen und spektakulären Theateraufführungen auf. Im gleichen Jahr wurde aus Şermin Özel Shermin Langhoff und etwas später die Intendantin des Maxim Gorki Theaters, welches sich unter ihrer Leitung zum Epizentrum der postmigrantischen Kulturszene entwickelte.
Eberhard Seidel: „Döner. Eine türkisch-deutsche Kulturgeschichte“. März Verlag 2022, 257 Seiten, 20 Euro
1998 gründete sich Kanak Attak, ein Zusammenschluss von klugen und selbstbewussten Menschen, die sich in ihrem Manifest ausdrücklich als „kein Freund von Mültikültüralizm“ bezeichneten. Sie kritisierten den dominanten Einwanderungsdiskurs um Multikultur als rassifizierend und identitätspolitisch als tendenziell rassistisch. Und mit Cem Özdemir saß der erste Abgeordnete mit türkischem Hintergrund im Deutschen Bundestag. Deutschtürken konnten von jetzt an alles sein: Steuerberater, Arbeiter, Unternehmer, Arbeitslose, Spekulanten, Kriminelle, Sozialhilfebezieher, Politiker, Künstler, Prostituierte, Eltern, Alleinerziehende, Schwule, Lesben, Schönheitsköniginnen, Gottlose, Muslime, Aleviten, Sunniten, Christen, Juden, Lasen, Kurden, Assyrer, Yeziden, Handwerker, Putzfrauen, Istanbuler, Anatolier, Dumme und Kluge, Eiferer und Pragmatiker, Mörder und Polizisten, Schriftsteller und Analphabeten – und auch Dönerimbissbetreiber. Nicht mehr und nicht weniger.
Das war vor dem 11. September 2001. Bevor aus den uns Altdeutschen immer ähnlicher werdenden Deutschtürken plötzlich in den medialen Diskursen gefährlich fremde Muslime wurden. Das alles geschah, bevor der Begriff „Döner-Morde“ von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum Unwort des Jahres 2011 erklärt wurde. Zur Erinnerung: Sieben Jahre lang, zwischen 2000 und 2006, ermordeten Mitglieder des terroristischen „Nationalsozialistischen Untergrunds“ (NSU) acht türkische und einen griechischen Kleinunternehmer und eine Polizistin, zündeten eine Nagel- und mindestens zwei Rohrbomben.
Die Polizei vermutete bis zum 4. November 2011 Killer aus dem türkischen Drogenmilieu hinter diesen Morden und verbreitete diese Legende. 2005 prägte sie den Begriff „Döner-Morde“, der von der Presse übernommen wurde. Das alles fußte auf keinerlei Fakten, wie wir heute wissen, sondern allein auf rassistische Vorurteilsstrukturen in Polizei und Presse.
Die Morde der Terrorgruppe NSU richteten sich gezielt gegen Gewerbetreibende, die als türkisch markiert wurden. Das ist kein Zufall, sondern politische Strategie, denn ihre Lebensmittelläden und Dönerimbisse sind der sichtbarste Beweis der Auflösung der ethnischen Homogenität durch Migration. Sie und ihre Familien sollten terrorisiert werden. Die Täter verzichteten auf Bekennerschreiben, sie wussten: Anders als die Behörden und die Vertreter der Mehrheitsgesellschaft verstehen die potenziellen Opfer, also die Angehörigen der türkischen Minderheit, die Intention ihrer Taten auch so – die Verbreitung von Verunsicherung, Angst und Terror. Das perverse Kalkül der Terroristen ging auf.
Die Terroristen des NSU folgten damit bereits in den Nullerjahren einer Strategie, die der rechtsextreme französische Philosoph Renaud Camus, ein Vordenker der rechtsextremen Front National, seit 2010 in seiner Schrift und Theorie des „Großen Austauschs“ und der „Auflösung der Völker“ propagiert – einem Bestseller in der rechtsextremen Identitären Bewegung Österreichs und Deutschlands. Camus fordert genau dies: Den Migranten das Leben, notfalls mit Gewalt, so unbequem wie möglich zu machen, um sie zum Verlassen des Landes zu zwingen.
Auch der rechtsextreme Attentäter von Christchurch in Neuseeland, dem 51 Menschen zum Opfer fielen, und der Attentäter auf die Synagoge und den „Kiez-Döner“ in Halle, Stephan Balliet, bezogen sich auf Renaud Camus.
Ein unbeschwertes Reden über den Döner Kebap ist nach den „Döner-Morden“ und der medialen Inszenierung einer „Döner-Mafia“ nicht mehr möglich. Dennoch sollten wir uns dagegen wehren, dass unsere Narrative von den Rechten diktiert werden.
Der vorliegende Text ist ein gekürzter und bearbeiteter Auszug, der mit freundlicher Genehmigung des Verlags gedruckt wurde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei Volkswagen
1.000 Befristete müssen gehen
Scholz stellt Vertrauensfrage
Traut mir nicht
Wahlprogramm der Union
Scharfe Asylpolitik und Steuersenkungen
Mord an UnitedHealthcare-CEO
Gewalt erzeugt Gewalt
Rechtsextreme Demo in Friedrichshain
Antifa, da geht noch was
Künftige US-Regierung
Donald Trumps Gruselkabinett