Über alltäglichen Rassismus: „Da werden Debatten gern umgedreht“

Ozan Zakariya Keskinkılıç hat die Frage, wie es zu Rassismus kommt und was der mit Betroffenen macht, zu seinem Beruf gemacht.

Portrait von Ozan Keskinkilic .

Foto: Stefanie Loos

taz: Herr Keskinkılıç, wir unterhalten uns ja gerade über FaceTime. Wie finden Sie dieses isolierte Leben in Coronazeiten?

Ozan Zakariya Keskinkılıç: Ach, ich bin es gewohnt, Homeoffice zu machen. Andererseits mussten viele meiner Vorträge im In- und Ausland abgesagt werden, und auch meine Vorlesungen an der Alice-Salomon-Hochschule kann ich nicht wie gewohnt halten. Wir versuchen gerade, die Lehre online zu gestalten. Das soziale Leben spielt sich nur noch digital ab, mit Familie und Freunden skype ich ganz viel. Meine Frau und ich sind mit unserer Tochter zu Hause, die sonst in die Kita gehen würde. Das ist dann die doppelte Belastung, die gerade viele spüren.

Wegen Corona ist vieles in den Hintergrund getreten, auch der Anschlag in Hanau vom 19. Februar; über die Opfer, über Rassismus wird kaum noch geredet. Was tun?

Es ist klar, dass so eine Pandemie die Aufmerksamkeit auf sich zieht. Gleichzeitig muss man sich fragen, wie man es schaffen kann, dass andere Fragestellungen nicht aus dem Blick geraten, die ja trotzdem eine Realität darstellen. Das Phänomen Rassismus und die Fragen rund um Hanau sind ja nicht verschwunden, weil es Corona gibt. Ich bekomme zum Beispiel – wie andere auch – weiter Hassmails.

Der Mensch Ozan Zakariya Keskinkılıç wird 1989 geboren und verbringt seine Kindheit mit drei jüngeren Geschwistern in einem kleinen Dorf in Südhessen in der Nähe von Hanau. Sein Vater arbeitete als Taxifahrer und Maschinenführer in einer Fabrik, jetzt als Produktions­leiter. Seine Mutter war viele Jahre als Reinigungskraft und Kassiererin beschäftigt, sie ist Hausfrau.

Der Werdegang Nach dem Abitur studiert Keskinkılıç zunächst Psychologie, dann wechselt er zu Internationaler Entwicklung und Internationalen Beziehungen, zuerst in Wien, seit 2014 in Berlin. Zurzeit promoviert er an der Humboldt-Universität über das Thema Antimuslimischer Rassismus und unterrichtet an der Alice-Salomon-Hochschule. Er ist Vorstandsmitglied der Neuen Deutschen Organisationen (NDO), eines Netzwerks von postmigrantischen Vereinen, Organisationen und Projekten nichtweißer Deutscher, sowie Co-Koordinator der jüdisch-muslimischen Salaam-Schalom Initiative aus Neukölln. (sum)

Sie auch?

Ja, natürlich. Das hat mich jetzt viel beschäftigt seit Corona: Die einen horten Toilettenpapier, während andere mir eine Mail schreiben, dass ich das Land verlassen soll. Da fragt man sich schon: Wo liegen die Prioritäten? (lacht)

Manche versuchen, die Themen zu verbinden. Die Journalistin Ferda Ataman hat auf Twitter eine Debatte ausgelöst mit ihrer These, sie könne sich gut vorstellen, für wen sich Ärzte im Zweifelsfall entscheiden, nämlich weiße Deutsche, wenn es durch Corona zu Engpässen in Krankenhäusern kommt. Ist das ein Vehikel, die Debatte am Laufen zu halten?

Ich würde das nicht sagen. Sonst klingt das so, als würde die aktuelle Lage ausgenutzt, um das Thema Rassismus in den Fokus zu rücken. Aber Rassismus bleibt ein wichtiges Thema, und auch die Frage von Rassismus im Gesundheitssektor beschäftigt uns nicht erst seit Corona. Man kann diese Sorge durchaus artikulieren, sie ist nicht an den Haaren herbeigezogen, auch wenn manche das nun meinen, weil sie selbst nie Rassismus erfahren. Mich hat das daher schon beunruhigt, wie dieser Shitstorm gegen Ferda Ataman losging.

Inwiefern?

Wenn Rassismus benannt wird, wird gerne darüber geredet, warum es keinen Rassismus gebe. Es wird alles getan, um zu beweisen, dass das alles eine Illusion oder Einbildung sei – statt die Sorgen und Ängste dieser Mitbürger mal ernst zu nehmen und zu schauen: Was ist da dran?

Wie finden Sie, dass „die Gesellschaft“ auf Hanau reagiert hat? Sehen Sie – nach Halle, NSU – einen Lerneffekt?

Schwierig zu sagen. Man kann mehreres beobachten. Einerseits, dass in einigen Medien nach dem Anschlag – einem klassischen Muster folgend – von „Fremdenfeindlichkeit“ gesprochen wurde. Das beobachten wir oft nach einem rassistischen Anschlag – was ich ziemlich problematisch finde, weil es impliziert, dass die Opfer Fremde seien, die hier gar nicht dazugehören. Aber das Wort Rassismus kommt vielen Menschen so schwer über die Lippen, weil es sich so hart anfühlt.

Von Ozan Zakariya Keskinkılıç erschien 2019 „Die Islamdebatte gehört zu Deutschland“. Darin geht es auch um das Islambild der AfD und die Frage, wie die aktuelle Islamdebatte an historische kolonialistische Diskussionen anknüpft. „Fremd­gemacht & Reorientiert“ ist ein Sammelband, 2018 von Keskinkılıç herausgegeben gemeinsam mit Armin Langert, mit dem zusammen er Mitbegründer der Salaam-Schalom-Initiative ist. In dem Buch geht es um den Zusammenhang von Antisemitismus und antimuslimischem Rassismus und jüdisch-muslimische Solidarität. (sum)

Viele Medien haben auf die Kritik reagiert und sich korrigiert in den nächsten Tagen.

Ja, es kam zu der Korrektur. Am Anfang hatte auch ein Medium geschrieben von den „Schischa-Morden“ – das ist ja eine direkte Analogie zur Berichterstattung über „Döner-Morde“, wie wir das beim NSU gelesen haben. Wir hören also einerseits Positionen, die die Tat verlagern in Richtung Fremdenfeindlichkeit und der These vom Einzeltäter, dem Verrückten, der nichts mit uns zu tun habe. Andererseits gibt es Stimmen, die sagen: Das stimmt nicht, hinter dem Anschlag steckt etwas Größeres. Gerade aktivistische Gruppen haben viel dazu beigetragen, dass der Fokus nach dem Anschlag auf den Rassismus und seine Bandbreite im Alltag und in Institutionen gelenkt wurde. Das hat mich ziemlich beeindruckt, zu sehen, mit welcher Ausdauer und Stärke Selbstorganisationen und Menschen mit Rassismuserfahrungen ihre Stimme erhoben haben – und zum Teil auch gehört wurden.

Kurz vor dem Anschlag von Hanau haben Sie einen Gastbeitrag in der Zeit überschrieben mit: „Muss ich erst ermordet werden, damit ihr empört seid?“ Darin ging es um den Alltagsrassismus, der Ihr Leben begleitet, und Ihre gelegentlichen Auswanderträume. Haben Sie über diese Option nach Hanau intensiver nachgedacht?

Nein, die stellt sich mir nicht. Die Frage ist vielmehr: Wie kommt es, dass Menschen uns hier vertreiben wollen? Und wie können wir die Debatte gestalten, damit das nicht geschieht? Vor Kurzem habe ich eine Mail bekommen von einem Steuerberater – solche Leute unterschreiben ja auch immer öfter mit Klarnamen –, der schrieb, Deutsche seien vorher in Deutschland gewesen und Muslime versuchten, die „christlich-jüdische Kultur“ unterzuordnen. Und er mache sich Gedanken, dass, wenn „wir“ mehr sind, er sich unterordnen müsse. Da fragt man sich: Hallo, ich bin auch deutsch, was ist das für eine unsinnige Aussage? Aber wir wissen natürlich, was er meint: Für ihn bin ich nicht deutsch und kann es nicht sein. Diese Sichtweise muss angegangen werden. Sonst braucht man sich nicht zu wundern, wieso Gewalt geschieht und Menschen auf offener Straße angegriffen werden, die wegen ihres Aussehens als Nichtdeutsche gelten. Die Frage nach dem Auswandern will ich mir dagegen nicht stellen.

Das ist mir klar. Aber sie wird doch dringlicher. Die Kolumnistin Mely ­Kiyak hat kürzlich geschrieben, wenn die Wahl von Kemmerich in Thüringen eine gewisse Parallele zu 1932 habe, dann müssten sich nichtweiße Deutsche Gedanken darüber machen, ob dieses Land noch sicher ist für sie und ihre Kinder.

Diese Frage stelle ich mir natürlich. Die Frage nach Sicherheit stellt sich, glaube ich, fast jeder Mensch, der Rassismuserfahrungen gemacht hat. Sie begleitet einen im Alltag. Man ist hier in seinem eigenen Land, aber man wird nicht angenommen und fragt sich natürlich: Was muss noch geschehen? Muss ich darauf warten, dass die Grenze zur Gewalt überschritten wird? Wer beschützt mich? Und klar hat man eine Weltkarte im Kopf und überlegt, wohin man gehen kann. Meine Eltern und Großeltern haben sich diese Frage auch schon gestellt. Und ich habe auch eine Tochter und frage mich, wie ihr Leben hier verlaufen wird. Aber da ist man in einem Dilemma. Wenn ich sagen würde, ich habe den Koffer halb gepackt und da schon ein Land ins Auge gefasst, motiviert das womöglich sogar Leute dazu, weiterzumachen um „unsereins“ zu vertreiben.

Ja, das stimmt. Und es ist ja tatsächlich kein Ausweg.

Zumal ich auch nur die deutsche Staatsbürgerschaft habe.

Ein Regal mit Büchern und einem Kamel aus Metall - es soll ein Briefbeschwerer sein

Ein Briefbeschwerer (in Form eines Kamels) aus dem Haushalt des Interviewten Foto: Stefanie Loos

Sie kommen ja aus der Nähe von Hanau, aus Südhessen. Ist es dort schlimmer mit dem Rassismus – oder in Berlin?

Das ist eine schwierige Frage. Ich bin 2014 nach Berlin gekommen zum Masterstudium. Und natürlich ist eine Metropole wie Berlin eine andere Situation als die, in der ich aufgewachsen bin. Wir sind oft umgezogen, aber zum Großteil bin ich in einem kleinen Dorf in Südhessen mit ein paar Hundert Einwohnern aufgewachsen. Da waren wir das „Exotischste“, was viele zu Gesicht bekommen haben. Die Blicke haben einen begleitet im Alltag, damit bin ich aufgewachsen. Auch in der Schule war ich ständig damit konfrontiert, „anders“ als die andern zu sein.

Kam das von Mitschülern oder von Lehrern?

Beides. Ich war die ganze Schulzeit bis zum Abitur einer der wenigen Schüler mit „Migrationshintergrund“. Die „Herkunft“ blieb von Lehrern nicht unkommentiert. Wenn ich so überlege: Ich hatte nur weiße deutsche Lehrer und Lehrerinnen. Was die mir zurückgespiegelt haben, war natürlich auch: Du bist anders. Zum Beispiel als es darum ging, auf welche weiterführende Schule ich gehen sollte.

Wie war das?

Mein damaliger Klassenlehrer hat mir die Realschule empfohlen, obwohl ich die gleichen Noten hatte wie ein weißer deutscher Mitschüler, der eine Gymnasialempfehlung bekam. Ich habe mich beschwert, doch der Lehrer sagte: Du hast nicht dieselben Kapazitäten wie er, du bist für den einfachen Weg bestimmt. Dieses Ereignis hat sich eingebrannt in meinen Kopf. Das wollte ich nicht auf mir sitzen lassen. Ich habe dann in einem Jahr auf der Realschule versucht zu beweisen, dass eine falsche Entscheidung getroffen wurde, habe einen 1er-Schnitt geliefert und gefragt: Darf ich jetzt hingehen? So kam ich doch aufs Gymnasium.

Haben Ihre Eltern nie überlegt, ob es in der Großstadt nicht besser wäre?

Ich habe als Jugendlicher natürlich auch oft gesagt, wie cool das wäre, in der Großstadt zu leben, in Frankfurt oder Berlin. Es gibt dort mehr Leute, die aussehen wie man selbst, darunter auch nichtweiße Ärzte und Kunstschaffende, ein breiteres Angebot an Communitystrukturen, es gibt Moscheen, die sogar von außen wie welche aussehen (lacht) – ich habe Jugendliche beneidet, die so aufgewachsen sind. Aber ich glaube, meine Eltern wollten einfach, dass wir eine behütete Kindheit auf dem Land haben.

Schön Einfamilienhausidylle!

Meine Eltern lieben die Natur. Sie haben Schafe, Hühner, einen kleinen Gemüsegarten. Das war auch schön. Meine Kindheit auf dem Land war kein Horrormovie. Aber Rassismus existiert genau in dieser Doppeldeutigkeit, du selbst lebst darin. Einerseits hast du ein stinknormales Leben und andererseits eben nicht! Du musst lernen, mit dieser Diskrepanz umzugehen, mit der andere niemals konfrontiert sind. Die Mehrheit in Deutschland muss sich nicht die Frage stellen: Wenn ich da oder dort hingehe, bin ich dort sicher vor rassistischer Gewalt? Auch auf dem Schulweg kam es vor, dass ich von Schulkameraden angegriffen wurde.

Haben Sie das Ihren Eltern erzählt?

Nie. Ich denke, viele Kinder erzählen ihren Eltern nicht alles, nicht nur nach rassistischer Gewalt. Weil sie denken, die können eh nicht helfen oder machen die Sache nur noch schlimmer. Ein Grund war aber auch, dass ich gar keine Sprache hatte, um diese Erfahrungen überhaupt auszudrücken. Wenn dir deine Umgebung permanent zurückspiegelt, dass dein Name, deine Körper- und Haarfarbe, deine Religion und „Herkunft“ nicht normal ist, dass du nicht hierhergehörst, dann beeinflusst das sehr stark, wie du über dich selbst denkst. Es hat lange gedauert, bis ich verstanden habe, dass nicht ich das Problem bin, sondern, wie andere über mich denken und sprechen.

Sie promovieren an der Humboldt-Uni über antimuslimischen Rassismus. Ist das nicht schwierig, an einem Thema zu forschen, das einen selber so stark betrifft?

Interessante Frage. Meiner Einschätzung nach sind alle Menschen von den Themen, an denen sie arbeiten, stark betroffen. Ich glaube nicht an die künstliche Distanz, die Schreibende zu ihrem Objekt aufbauen. Auch weiße Menschen, die über Rassismus schrei­ben, sind Teil des Phänomens, nur aus einer anderen Position heraus. Die Frage nach der Neutralität wird aber weißen Wissenschaftlern in der Regel nicht gestellt.

Stimmt.

Trotzdem ist die Frage wichtig. Weil es darum geht, wie ich damit umgehe, dass ich in beiden Situationen existiere. Einerseits als Mensch, der Rassismus erfährt, andererseits untersuche ich das Phänomen. Ich glaube, diese Erfahrung schränkt mich nicht ein, sondern sie gibt mir eine zusätzliche Expertise. Wir Menschen mit Rassismuserfahrung sind Experten für unsere Lebensrealitäten, weil wir aus einer Ecke der Gesellschaft berichten, in die wir verdrängt werden. Dieses Erfahrungswissen muss gewürdigt werden, weil es uns einen anderen Blick auf die Frage eröffnet, wie soziale Ungleichheit geschieht, wie Gesellschaft produziert wird, wie „Wahrheit“ hergestellt und erfunden wird.

Die einen horten Toilettenpapier, während andere mir eine Mail schreiben, dass ich das Land verlassen soll

Ich habe mich nur gefragt, ob man das will – sich als Betroffener von Rassismus auch noch beruflich damit auseinanderzusetzen.

Ja, das stimmt. Es gibt viele Tage, an denen ich mich frage, was ich anderes hätte machen können. Das ist eine ziemlich schmerzhafte Frage, ehrlich gesagt. Ich wollte nämlich eigentlich Psychologie studieren. Ich habe in der Oberstufe extra hart gearbeitet für einen guten Abidurchschnitt, weil der NC bei Psychologie so hoch ist.

Und?

Ich habe auch begonnen, Psychologie zu studieren, das war mein Traumfach.

Was passierte dann?

Ich war unter den Studierenden im Erstsemester wieder einer der wenigen mit „Migrationshintergrund“. Erst dachte ich, macht nichts, du bist ja an der Uni, da bist du frei, der ganze Mist passiert dir jetzt nicht mehr. Aber das ist Unsinn, Menschen an der Uni sind nicht besser als anderswo, bloß weil sie „gebildeter“ sind. Dass ich dort so oft von Kommilitonen und Kommilitoninnen rassistisch beleidigt wurde, hat mir bald zu denken gegeben. Einmal saß ich mit ein paar von ihnen zusammen, es ging darum, wo man sich vorstellen könnte zu leben nach dem Studium. Der eine sagte England, eine andere Frankreich – und ich Kanada. Da wurde ich beschimpft von einer Kommilitonin als „Sozialschmarotzer“, das sei ja wieder „typisch Ausländer“, erst vom Sozialsystem profitieren und dann abhauen! Ich war total geschockt.

Und die anderen?

Niemand hat eingegriffen. Ich konnte es nicht fassen. Auch meine Familie arbeitet und zahlt Steuern, meine Großeltern haben dieses Land mit aufgebaut, als sie in den 1970er Jahren nach Deutschland gekommen sind. Überhaupt, warum sollen nichtweiße Menschen nicht frei wählen dürfen, wo und wie sie leben?

Das war der Auslöser für Sie, das Studium zu wechseln?

Das war der Auslöser, mich zu fragen, ob Psychologie für mich gerade das richtige Fach ist. Oder ob mich nicht gerade ein anderes politisches Thema beschäftigt. Und zwar: Wie ist das möglich, dass diese Studentin das machen kann und andere nicht eingegriffen haben? Ich wollte verstehen, woher rassistisches Wissen kommt, wie Rassismus historisch entstanden ist, wie dieses Denken selbst politische Strukturen prägt und sich gesellschaftlich etabliert. Ich habe das Psychologiestudium abgebrochen und erst einmal das Land verlassen.

Das Phänomen Rassismus und die Fragen rund um Hanau sind ja nicht verschwunden, weil es Corona gibt. Ich bekomme zum Beispiel – wie andere auch – weiter Hassmails

Also doch?

Ja (lacht), nach Wien. Dort gab es ein Fach, das ich in der Form in Deutschland nicht gefunden habe: Interna­tio­nale Entwicklung. Da konnte ich bereits im Bachelor den Schwerpunkt setzen auf kritische Rassismusforschung und postkoloniale Theorie. Im Studium habe ich Schwarze, jüdische, indigene und muslimische Denkerinnen und Denker kennengelernt, die die europäisch-westliche Deutungshoheit herausfordern. Auch die Distanz zum bisherigen Dorfleben hat mir gutgetan. Ich habe mich in Wien verliebt, die Architektur, die Kaffeehauskultur. Zur gleichen Zeit habe ich erleben müssen, wie selbstverständlich und unwidersprochen sich rassistische Hetze auch dort im Alltag ausdrückt. Ohne Zweifel hat die FPÖ wesentlich zu diesem Klima beigetragen. Das wird uns hier noch bevorstehen. Wir können ja jetzt schon sehen, wie sich mit dem Erfolg der AfD auch die Grenzen des Sagbaren verschoben haben.

Aber hat nicht die AfD ihren Zenit schon überschritten?

Ich wäre da vorsichtig. Mich hat das sehr beschäftigt, was in Thüringen bei der Kemmerich-Wahl passiert ist. Ich war dort die letzten zwei Jahre Sachverständiger in der Enquetekommission des Landtags zu Rassismus. Dabei habe ich gemerkt, wie die Debatten dort ablaufen, das ist noch mal einen Gang härter. Ich habe große Sorge, dass sich die AfD weiter „normalisieren“ wird, dass sie in einzelnen Bundesländern in absehbarer Zeit die stärkste Kraft sein wird und es andere Parteien geben wird, die ein Tabu brechen.

Die mit der AfD zusammenarbeiten werden?

Ja. Ich sehe noch keine klare Form der Distanzierung.

Haben Sie eine Idee, was zu tun ist?

In der Kommission ging es darum, was gegen rassistische Gewalt getan werden kann. Man muss sehen, was nun umgesetzt wird. Eigentlich müsste es solche Kommissionen in allen Bundesländern geben – und im Bundestag. Das ist etwas, das ich nach Hanau erwartet hatte. Die Fürsprache zugunsten einer toleranten Gesellschaft reicht nicht. Es muss eine Antwort geben vonseiten politischer Institutionen. Die Kommission muss die ungemütliche Frage nach institutionellem Rassismus stellen, sich damit ehrlich befassen. Ich hoffe sehr, dass wir hier in der Zeit nach Corona weitermachen.

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