Über Existenz und Menschlichkeit: Eine Prise bewusste Sterblichkeit
In ihrer letzten Kolumne appelliert unser Autorin daran, sich bewusster mit dem Tod auseinanderzusetzen. Auch für eine bessere Gesellschaft.
H eute lesen Sie hier meine letzte Kolumne. Nicht traurig sein. Ich gehe, doch der Tod bleibt. Denn wissen Sie was: Sie sterben. Der Kellner im Café, der Ihnen gerade Ihren Cappuccino gebracht hat, auch. Ihre beste Freundin, die Ihnen gegenübersitzt und von ihrem letzten Date erzählt. Die Busfahrerin auf Ihrem Nachhauseweg. Alle Menschen, die sie im Rückspiegel ein- und aussteigen sieht. Die Flaschensammlerin in Ihrer Straße. Die Nachbarin im Erdgeschoss, die den ganzen Tag nach draußen schaut, mit Häkelkissen auf dem Fensterbrett.
Und Ihre Katze auch. Das Beste, worauf Sie hoffen können, ist, dass es eine Handvoll Leute gibt, die noch eine Zeitlang freundlich an Sie denken, ein Bild oder zwei von Ihnen in ihr Wohnzimmer stellen. Ihre Kinder vielleicht, bis auch die sterben. Der Tod bleibt Ihnen erhalten als größtmögliche Kränkung, als ultimativer Super-GAU für Ihr Ego, das Ihnen jeden Tag einflüstern will, Ihr Leben hätte irgendeine Bedeutung. Klingt hart? Finde ich gar nicht.
Meine Rechnung geht so: Eine Prise bewusste Sterblichkeit minus eine Portion Ego ist gleich eine bessere Gesellschaft. Wenn wir aufhören würden, dermaßen angestrengt in eine andere Richtung zu schauen, wenn wir anfangen würden zu begreifen, dass der Tod eines der wenigen Dinge ist, die wir alle gemeinsam haben, könnte das zu echter existenzieller Solidarität führen.
Vielleicht wäre es dann keine Frage mehr, ob wir Menschen helfen, die in Lebensgefahr sind. Vielleicht würden wir verstehen, dass wir keine Kontrolle haben, dass unsere Welt brüchig und das Leben fragil ist, dass man es nun Glück oder Zufall nennen kann, wenn man nicht zu jenen gehört, die sich in Kabul an ein Flugzeug klammern oder in überfüllten Gummibooten übers Mittelmeer kommen. Weil Menschlichkeit die einzige Bedeutung ist, die wir unserer sinnlosen Existenz abringen können.
Wenn wir den großen, finalen Abschied im Blick hätten, könnten wir vielleicht auch gelassener auf all die kleinen Abschiede schauen. Wir könnten uns darin üben, Veränderung zuzulassen. Uns von einer Sprache verabschieden, die andere Menschen ausschließt. Von Urlaubsreisen, während einer Pandemie. Von Wachstumsgläubigkeit im Angesicht des Klimawandels. Von heteronormativen Familienmodellen.
Zugegeben, das ist groß gedacht. Ich will auch nicht sagen, dass der Tod alles besser macht. Im Gegenteil. Mir macht er genauso viel Angst wie Ihnen. Oder um es mit den Worten des von mir sehr verehrten Schorsch Kamerun zu sagen: Ich find Tod trotzdem scheiße. Doch ich bin mir sicher: Der Konfrontation mit der Vergänglichkeit wohnt eine politische Kraft inne, die wir nutzen sollten. Vielleicht denken Sie mal bei Ihrem nächsten Cappuccino an mich. Dann recken wir gemeinsam die Faust und schmettern unserer Todesfeigheit entgegen: Schluss jetzt!
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Wirtschaftsminister bei Klimakonferenz
Habeck, naiv in Baku
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit