US-Professor über Proteste in den USA: „Leute taumeln vor Enttäuschung“
Die Aufstände in Ferguson und andernorts seien Ausdruck von Hoffnungslosigkeit, sagt Stefan Bradley von der Universität St. Louis.
Mr Bradley, was ging Ihnen durch den Kopf, als die Entscheidung der Grand Jury bekannt gegeben wurde?
Stefan Bradley: Ich war mit Bekannten vor der Polizeiwache in Ferguson, ich wollte nicht allein sein. Zwar ahnte ich, dass es keine Anklage geben würde. Das aber dann zu hören und die tiefe Enttäuschung der Leute zu spüren, die schiere Agonie, das hat sehr weh getan.
Nach der Entscheidung gab es sehr unterschiedliche Reaktionen in Ferguson. Was haben Sie gemacht?
Viele Menschen haben sich von der Polizeiwache aus in Richtung West Florissant in Bewegung gesetzt. Es war ziemlich chaotisch, manche rannten. Ich habe Dinge gesehen, die mich an die Tage im August erinnerten (nach Michael Browns Tod, d. Red). Ich konnte die Verletzung der Leute spüren, ihre Qual. Nach zwanzig Minuten wurde die Qual zur Wut. Und nach einer Weile zu einem Rausch.
Nach all den Ereignissen: Wohin kann die Stadt nun gehen?
Das ist eine schwierige Frage. Ferguson muss sich jetzt vor allem auf den Moment konzentrieren. Die Leute taumeln vor Wut und Enttäuschung und Verletzung. Ich glaube, die Stadt muss das jetzt ertragen.
Was bedeutet das für die kommenden Tage und Nächte?
Die Leute werden eine Zeit lang leiden. Und während sie das ausdrücken, gibt es Potenzial für weitere destruktive Akte. Manche Leute meinen, dass jene, die plündern und verbrennen, verrückt sind, unzivilisiert und wild. Aber das trifft es nicht. Diese jungen Leute zeigen ihre Hoffnungslosigkeit. Sie glauben nicht an ein Justizsystem, das keine Gerechtigkeit schafft. Sie finden es schwer, irgendeinen Sinn darin zu finden, dass ein unbewaffneter Teenager von einem Polizisten mit einer Waffe getötet wird. Und sie fragen sich, warum sie Eigentum respektieren sollten, wenn sie mit 18 erschossen werden können.
ist Direktor für Afroamerikanische Studien an der privaten Saint-Louis-Universität in Missouri.
In der jüngeren Geschichte der USA hat es andere Momente mit Plünderungen und Brandstiftungen gegeben – in Los Angeles in den 90er Jahren und vielerorts in den 60ern. Ist das vergleichbar?
Die Situation ist ähnlich. Weil die Leute einen Missstand erleiden, ihre eigene Machtlosigkeit. Sie haben das Gefühl, nicht vertreten zu werden. Es ist frustrierend, wenn es nicht viel im Leben gibt, auf das man sich freuen kann. Und wenn bei Wahlen niemand kandidiert, der unser Interesse repräsentiert.
Warum akzeptiert die Mehrheitsbevölkerung von Ferguson, dass kaum Schwarze in Polizei und Verwaltung ihres Ortes sind? Warum gehen viele nicht einmal wählen?
Das hat mit demografischen Veränderungen zu tun. Der North County ist erst in den 80ern und 90ern schwarz geworden, davor war er mehrheitlich weiß. Aber die Weißen blieben an der Macht. Das führte zu einer Situation, in der der Stadtrat lange komplett weiß war. Das Gefühl von Machtlosigkeit und dass sich das Leben nicht ändert, wenn man wählt, ist weit verbreitet.
Was ist das Besondere an der Situation von Afroamerikanern im Großraum St. Louis um Ferguson ?
Es ist eine der segregiertesten Gegenden der Nation; eine Reminiszenz des alten Südens. Wir haben schwarze Stadtteile – Gegenden, in denen man die Weißen an einer Hand abzählen kann. Und weiße Gegenden, in denen kaum Schwarze leben. Die anderen Dinge in St. Louis gleichen dem Rest der USA: Wir haben dieselben niedrigen Beschäftigungszahlen für Schwarze, dieselben Niedrigstandards für Häuser, in denen schwarze Mieter leben. Schwarze werden mehr von der Polizei angehalten als jede andere Gruppe. Und Schulen, mit mehrheitlich schwarzen Schülern stehen so oft vor dem Scheitern wie überall im Land.
Keine Anklage in Ferguson
Was sagen Sie Ihren Studenten?
Ich habe afroamerikanische Studenten. Eines Tages werden sie in Positionen sein, in denen sie Macht haben – als Anwälte, Politiker, Unternehmer und Erzieher. Ich hoffe, dass sie lernen, dass sie Verantwortung für andere haben. Ich möchte, dass sie nun mitfühlen und verstehen.
Was bedeutet das konkret?
Ich möchte nicht, dass sie etwas zerstören. Aber sie sollen mit den Leuten reden und deren Anliegen verstehen. Es ist wichtig, dass sie eine Verbindung zu den Leuten haben, die sich macht- und hoffnungslos fühlen. Meine Studenten bekommen eine Ausbildung, die die meisten nicht bekommen. Das ist ein Privileg und eine Verantwortung. So dass sie später, wenn sie in einer Position mit Macht und Hoffnung sind, etwas ändern können.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag auf Magdeburger Weihnachtsmarkt
Vieles deutet auf radikal-islamfeindlichen Hintergrund hin
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Keine Konsequenzen für Rechtsbruch
Vor dem Gesetz sind Vermieter gleicher
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Klimakiller Landwirtschaft
Immer weniger Schweine und Rinder in Deutschland