US-Jazzerin Carla Bley ist tot: Gesellschaftsverändernde Musik
Die Jazzkomponistin und Bandleaderin Carla Bley ist eine wichtige Stimme der US-Avantgarde. Nun ist die 87-jährige gestorben. Ein Nachruf.
Zuletzt wirkte sie unendlich schmal und zerbrechlich, die Augen unter dem tiefsitzenden Pony kaum zu erkennen, als ihr Lebenspartner, der Bassist Steve Swallow, sie behutsam auf die Bühne und zum Klavier führte.
Carla Bley, US-Komponistin von einigen der ergreifendsten Melodien des Jazz, wie „Ida Lupino“, das sich auch im Repertoire großer Pianist*innen findet, etwa bei Irène Schweizer, Aki Takase und Carlas erstem Ehemann Paul Bley.
Besonders auf dessen Soloalbum „Open, to love“ (1972). Vorsichtig erkundend, verspielt und repetitiv das Thema immer variierend, unendlich zärtlich. Auch Carla Bleys andere Kompositionen auf diesem Album sind filigrane, beinahe flüchtige Miniaturen ihrer frühen Jahre.
Zigarrettenmädchen im Birdland
Kennengelernt hatte sich das Paar im New Yorker Jazzclub „Birdland“, wo die 1936 in Oakland, Kalifornien, als Lovella May Borg geborene Musikerin zunächst unter dem Namen „Carla Borg“ als Zigarettenmädchen arbeitete. Sie hatte ihr streng religiöses Elternhaus verlassen und war im Alter von 17 Jahren nach New York getrampt.
In der Kirche, in der ihr Vater als Organist tätig war, hatte sie schon im Kindesalter Orgel gespielt und bald begonnen, eigene Musik zu komponieren. 1971 war ihre Avantgarde-Oper „Escalator Over The Hill“ erschienen, ein Gesamtkunstwerk aus Jazz und neuer Musik mit Rockelementen und indischer Perkussion, aufgenommen zwischen 1968 und 1971 in New York.
Es ist ein Tripplealbum in goldendem Cover und einem Libretto des surrealen Dichters Paul Haines über ein Zusammentreffen verschiedenster Figuren und Dinge in einem fiktiven Hotel in Indien. Darunter Carla Bley in der Rolle als Mutantin, Don Cherry als „Sandhirte“, Sheila Jordan als „Gebrauchte Frau“ und Roswell Rudd als „Lautsprecher“.
Vom Orchester zur Genossenschaft
Auch Karl Berger, Charlie Haden und Jeanne Lee befanden sich unter den Mitwirkenden, als Teil des Jazz Composer’s Orchestra, das Carla Bley 1965 gemeinsam mit dem Trompeter Michael Mantler gegründet hatte, den sie 1967 heiratete. Zu diesem Zeitpunkt gehörte sie bereits zu den prägenden Figuren der musikalischen Avantgarde.
Um eigene Vertriebswege und Förderung zu ermöglichen, war sie Mitgründerin des „Jazz Composer’s Guild“, eines genossenschaftlichen Zusammenschlusses von Komponist*innen für die Selbstverwaltung ihrer Musik.
Gemeinsam mit Mantler gründete sie dafür das Indie-Plattenlabel JCOA und später für ihre Solowerke Watt. Rückblickend erinnerte sie sich, wie sie als Frau in der Gilde immer wieder herablassend bis ablehnend behandelt wurde. Sun Ra weigerte sich sogar, Bley als gleichwertig stimmberechtigt zu akzeptieren, wie sie 2021 dem Internetmagazin The Quietus berichtete.
Für Peter Brötzmann und Peter Kowald war sie dagegen früh ein wichtiges Vorbild. Zusammen mit den beiden tourte sie 1966 durch Europa. Ab 1969 war Carla Bley zudem Dirigentin und Arrangeurin des Liberation Music Orchestra von Charlie Haden, das sich mit der Politik der USA und deren Folgen künstlerisch auseinandersetzte: Vom Vietnamkrieg bis zum Irakkrieg.
Auch auf ihren eigenen Aufnahmen und noch auf ihrem letzten Trio-Album „Life Goes On“ (2020) mit ihrem langjährigen Lebenspartner, dem Bassisten Steve Swallow, und dem Saxofonisten Andy Sheppard nahm sie immer wieder politisch Bezug.
Am 17. Oktober ist Carla Bley in ihrem Haus in Willow, New York, 87-jährig an den Folgen eines Hirntumors gestorben. Bis zuletzt blieb sie eine kompromisslose Künstlerin, die an die gesellschaftsverändernde Kraft von Musik glaubte.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Schraubenzieher-Attacke in Regionalzug
Rassistisch, lebensbedrohlich – aber kein Mordversuch