US-Blick auf deutsche Politik: Müssen Kanzler Langweiler sein?
Dass ein Kandidat wie Olaf Scholz Regierungschef wird, wäre in den USA undenkbar. Unsere Autorin wundert sich über die Systemunterschiede.
taz | Eines hat mich als amerikanische Journalistin, die die Wahlen in Deutschland beobachtet hat, schockiert: Wie … nun ja … öde die Kandidatinnen waren. Kein Wunder, dass Olaf Scholz hier auch „der Scholzomat“ genannt wird. Erstaunlich, wie beherrscht er und die anderen Gäste sogar in der TV-Elefantenrunde am Wahlabend geblieben sind – während die Hochrechnungen gleichzeitig immer dramatischer wurden.
Image, Charakter und Persönlichkeit der Kandidaten scheinen in Deutschland nicht so sehr im Mittelpunkt zu stehen wie in den USA, wo die Wähler ihren Präsidenten direkt wählen. Dort können eine mitreißende Rhetorik und Charisma die Wahlen entscheiden. Politisches Spitzenpersonal in Deutschland müsse zwar „nicht zwangsläufig langweilig sein“, sagt Jeff Rathke, Leiter des American Institute for Contemporary German Studies an der Johns Hopkins University in Baltimore. Eine Tendenz dahin sei allerdings durch das politische System bedingt.
Deutsche Wahlkampagnen, so Rathke, sind „nicht so sehr um die Persönlichkeit der Spitzenkandidaten herum“ aufgebaut. Die Parteien bestimmten ihre Kandidaten schließlich durch interne Verfahren, nicht durch Vorwahlen wie in den USA. Grundlage der Kampagnen seien daher eher „die kollektiven Interessen und Ziele der Parteimitglieder und erst an zweiter Stelle die ihrer Wähler“.
Verglichen dazu werden die Parteien in den USA sehr viel häufiger durch ihre Kandidaten geprägt – so sehr, dass beispielsweise die Republikanische Partei heute Probleme damit hat, zu definieren, wofür sie nach dem Ende der Amtszeit Donald Trumps überhaupt noch steht.
Allerdings: Dieses Jahr hat sich auch in Deutschland etwas in Richtung des amerikanischen Systems verschoben, wenn auch noch sehr langsam. „Das war die erste Persönlichkeitswahl“, sagt Barbara Donovan, Professorin für Politikwissenschaft am Wesleyan College in Connecticut. Ihr Forschungsschwerpunkt ist das deutsche Parteiensystem.
Das Ende des Stammwählers
Jeff Rathke stimmt ihr zu: Es gebe in der deutschen Politik tatsächlich einen Trend hin zu „einer größeren Bedeutung der Spitzenkandidaten“, sogar bei Landtagswahlen. Ein Grund dafür, so Donovan, ist die Fragmentierung des Parteiensystems, die sich auch im Ergebnis der Bundestagswahl widergespiegelt hat. „Die Auswahl an Parteien ist mittlerweile größer. Früher gab es mehr Stammwähler, die entsprechend ihrer Familientradition oder ihres sozioökonomischen Status gewählt haben. Heute neigen Wechselwähler dazu, sich stärker mit den Programmen und den Kandidaten zu beschäftigen. Die Wahlentscheidung wird unverbindlicher.“
Der Fokus auf die Spitzenkandidaten sei dieses Jahr aber auch dadurch bedingt gewesen, dass die Amtsinhaberin nicht wieder angetreten ist. So sei die Frage wichtiger geworden, wer geeignet sei, in ihre Fußstapfen zu treten. „Viele, die für Scholz als Kanzler sind, haben früher Merkel gewählt. Sie waren nicht unbedingt CDU-Anhänger, sondern mochten einfach die Kanzlerin“, sagt Donovan.
Trotz der Bedeutungsverschiebung hin zu den Kandidaten blieb der Ton des Wahlkampfs allerdings unverändert langweilig – und das könnte ebenfalls mit Merkel zu tun haben. Ihr Prinzip der „asymmetrischen Demobilisierung“ und ihre typische nüchterne Art waren „16 Jahre lang das Erfolgsrezept für politische Leadership in Deutschland“, sagt Rathke. „Dass jetzt sogar ihre politischen Gegner dieses Rezept übernehmen, beweist nur, wie erfolgreich es war.“
Stellt sich nur die Frage: Wird es dabei bleiben – oder wird sich das deutsche Modell in den nächsten Jahren erneut wandeln?
Emma Hurt ist Journalistin aus Atlanta. Als Stipendiatin des Arthur F. Burns Fellowship hat sie die vergangenen Wochen in der taz-Redaktion verbracht und auch für US-Medien über die Bundestagswahl berichtet.
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