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UN-Standards für ErnährungssicherheitWas genau ist eine Hungersnot?

UN-Hilfswerke warnen vor einer Hungersnot im Gazastreifen. Es wäre die bisher größte weltweit. Wann diese eintritt, ist präzise definiert.

Bewohner des Gazastreifens sind massiv mit einer Hungerkrise konfrontiert Foto: Mahmoud Issa/reuters

Berlin taz | Erst zweimal in diesem Jahrhundert haben die Vereinten Nationen eine Hungersnot ausgerufen: in Somalia 2011 und in Südsudan 2017. Beides betraf Bevölkerungsgruppen, die schon lange im absoluten Elend lebten: im Süden Somalias im Kontext extremer Dürre vor dem Hintergrund zunehmender Milizenkonflikte und fehlender staatlicher Strukturen; in Südsudans Bundesstaat Unity im Kontext von drei Jahren Bürgerkrieg und Massenflucht. Es waren ganz andere Umstände als in Gaza heute.

Hungersnot ist für internationale Hilfswerke ein sparsam zu verwendender, präzise definierter Begriff. Ein Gebiet befindet sich dann in einer Hungersnot, wenn mindestens 20 Prozent der Bevölkerung nicht einmal Zugang zu den zum Überleben notwendigen 2.100 Kilokalorien pro Tag haben.

30 Prozent der Gesamt- bevölkerung im Gazastreifen leiden unter katastrophalem Hunger

Mindestens 30 Prozent der Kinder unter fünf Jahren müssen akut unterernährt sein, also an Auszehrung leiden. Und mindestens 2 von 10.000 Menschen täglich an Nahrungsmangel sterben. Festgelegt ist diese Definition im internationalen Klassifizierungssystem IPC (Integrated Food Security Phase Classification) zum Messen von Ernährungssicherheit. Dieses System, 2004 von den UN in Somalia entwickelt, ist heute der globale Standard.

Stufe 5 auf einer Skala von 1 bis 5

Auf der IPC-Skala von 1 bis 5 ist Hungersnot die Stufe 5. Die Skala reicht von der ersten Stufe „Minimal“ über „Strapaziert“ „Krise“, „Notsituation“ bis hin zu „Katastrophe“ für einzelne Haushalte; für ganze Gebiete heißen die fünf Stufen „Ernährungssicherheit“, „Hunger“, „Akuter Hunger“, „Humanitärer Notfall“ und „Hungersnot“.

Zwangsläufig leiden zahlreiche Menschen bereits unter „katastrophalen“ Bedingungen, bevor die Marke von 20 beziehungsweise 30 Prozent der Gesamtbevölkerung erreicht wird, die eine „Hungersnot“ charakterisiert. Daraus ergibt sich zuweilen Konfusion: UN-Hilfswerke warnen vor einer bevorstehenden Hungersnot, obwohl bereits viele Menschen entsprechend leiden. Dies gilt auch für die aktuelle IPC-Studie zu Gaza.

Der Hungersnotzustand „Katastrophe“ der Stufe 5 betrifft demnach jetzt schon 677.000 Menschen, 30 Prozent der Gesamtbevölkerung. Besonders schlimm ist demnach die Lage im Norden des Gebiets, wo Israels Militäroperation fast alles dem Erdboden gleichgemacht hat. Laut IPC-Bericht leben dort jetzt schon 84 Prozent der Bevölkerung in Stufe 5 (Katastrophe/Hungersnot) und 8 Prozent in Stufe 4 (Notsituation). Die Datenlage beruht auf Haushaltserhebungen bis zum 10. März.

Millionen Menschen von Hunger bedroht

Im gesamten Gazastreifen dürfte die Zahl der Menschen in Stufe 5 laut IPC-Prognose zwischen Mitte März und Mitte Mai auf 1,107 Millionen Menschen steigen, knapp die Hälfte der Gesamtbevölkerung. Bei einer Sterberate von zwei Verhungernden pro 10.000 Menschen pro Tag ergäbe das über 200 Hungertote pro Tag.

Helfer warten nicht auf ein solches Massensterben, bevor sie tätig werden. Allgemein gilt: Ab Stufe 3 ist dringend humanitäre Hilfe erforderlich. Aktuell, so die IPC-Zahlen, leben nur 96.000 Menschen im Gazastreifen nicht bereits in Stufe 3 oder darüber. Sie befinden sich aber auch nicht in Stufe 1, wo man genug zu essen hat – das hat im Gazastreifen kein Mensch mehr. Sie leben in Stufe 2, „Hunger“.

Wie das UN-Welternährungsprogramm WFP ausführt: „In dieser Phase haben die Menschen Schwierigkeiten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen, und müssen erhebliche Veränderungen vornehmen, um ihren Bedarf an anderen Lebensmitteln zu decken. Ihr Einkommen ist nicht nachhaltig, und 5 bis 10 Prozent der Bevölkerung sind akut unterernährt.“

Die bisher größte Hungersnot weltweit

Das sind die Lebensbedingungen der obersten 5 Prozent im Gazastreifen heute. Ab Mitte März, so der IPC-Bericht, wird auch dies vorbei sein. Dann beträgt die Bevölkerungszahl in den Stufen 1 und 2 jeweils: null.

Die befürchtete Hungersnot im Gazastreifen wäre mit über 1 Million Betroffenen außerdem die bisher größte weltweit. In Somalia ging es 2011 um 80.000 Menschen, in Südsudan 2017 um 490.000. In beiden Fällen konnten UN-Hilfswerke massive Hilfsoperationen starten – auch das ist in Gaza nicht in Sicht.

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11 Kommentare

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  • "Aktuell, so die IPC-Zahlen, leben nur 96.000 Menschen im Gazastreifen nicht bereits in Stufe 3 oder darüber. Sie befinden sich aber auch nicht in Stufe 1, wo man genug zu essen hat – das hat im Gazastreifen kein Mensch mehr." Kein Mensch? Am besten mal aktuelle Videos aus Gaza gucken. Die gefangengenommenen Hamas-Leute sehen durchaus wohlgenährt aus.

    • @Budzylein:

      Wir sollten doch bei der Realität bleiben!

  • "Bei einer Sterberate von zwei Verhungernden pro 10.000 Menschen pro Tag ergäbe das über 200 Hungertote pro Tag." Gibt es diese Sterberate? Sind aus zuverlässigen Quellen konkrete Personen benannt worden, die in Gaza an Hunger gestorben sind? Dazu ist im Artikel nichts zu finden.

    • @Budzylein:

      Gibt es nicht. Auf Grund von Verteilungsproblemen sind eine "geringe" (dennoch vermeidbar, weil auf den Märkten im Süden genug Essen angeboten wurde, aber nicht abgegebenen worden ist) Personen an Begleiterscheinungen gestorben. Der Fall eines Kindes mit Begleiterkrankungen wurde medial sehr publik gemacht. Diesem konkreten Fall hätte allerdings Essen wenig geholfen, eine stationäre medizinische Versorgung wäre zusätzlich nötig gewesen und da muss es auch wieder hin gehen.

  • "Die befürchtete Hungersnot im Gazastreifen wäre mit über 1 Million Betroffenen außerdem die bisher größte weltweit."



    Bitte besser recherchieren:



    Die Hungersnot in der Sahelzone in den Jahren 1984/1985 führte zum Tod von 2-3 Millionen Menschen. Allein in Äthiopien betraf sie schätzungsweise acht Millionen Menschen und führte zum Tod von schätzungsweise einer halben bis einer Million Menschen.



    Das macht eine Hungersnot in Gaza nicht harmloser. Jede Hungersnot ist eine Katastrophe.



    Trotzdem sollte man mit Superlativen vorsichtig sein.



    Den Opfern kann es egal sein, ob sie unter der größten weltweiten Hungersnot oder einer anderen Hungersnot leiden. Es ist für sie entscheidend, ob sie eine Chance auf Hilfe haben. Diese Frage ist mehr als einen Halbsatz wert.

    • @e2h:

      Die Hungersnot in der Sahelzone in den 1970er- und 1980er-Jahren war die Folge von Dürre, betraf etwa 50 Millionen Menschen und führte zum Tod von schätzungsweise einer Million Menschen.



      de.wikipedia.org/w...t_in_der_Sahelzone

    • @e2h:

      Ich nehme an, dass auch "bisher" im Kontext des einleitenden Satzes zu sehen ist, in dem von diesem Jahrhundert die Rede ist; aber natürlich haben Sie recht: es gibt ein Ausmaß des Schreckens, ab dem es wenig Sinn macht, noch Hierarchisierungen vorzunehmen.

    • @e2h:

      Die Superlative kommen wahrscheinlich dadurch zustande, dass es die Definition vor 2004 noch nicht gab und deshalb die UN davor keine Hungersnot (zumindest nicht auf Grund dieser Definition) ausgerufen hat.

  • Was nützen einem die Genfer Konventionen und der IGH wenn niemand internationales Recht umsetzt. Die demokratischen Länder, die diese Rechte geschaffen haben, untergraben sie, ignorieren sie wenn es ihnen passt und wenden sie an wenn es ihnen passt. Damit hat man jede moralische Überlegenheit verspielt. Für mich ist westliche Moral ebenfalls in Gaza gestorben und internationales Recht scheinbar auch.

    • 4G
      48798 (Profil gelöscht)
      @Momo Bar:

      Das internationale Recht würde ich trotzdem nicht verloren geben.



      Er wird ja gerade durch Länder des globalen Südens bemüht.

      Auch wenn die natürlich wenig Möglichkeiten zur einer Durchsetzung des Rechts haben.

      Wir sollten diesen Rechtsrahmen auch immer unabhängig von Ländern denken, die ihn nicht universell sondern nur nach strategischem Gutdünken anerkennen.

      Mehr hat die Menschheit zur Zeit leider nicht.

    • @Momo Bar:

      Leider gab und gibt es auch schon voher andere Verletzungen des internationalen Rechts. Und in der Tat ist hier noch viel Arbeit nötig um die Umsetzung zu gewähren.



      Aufgeben sollte man es dennoch nicht, da es unsere ienzige Chance ist auf globaler Ebene voranzukommen.